Als wir die Treppe hochgingen, lächelte Trudi mich an und küßte mich, so langsam und intensiv, als würde der Morgen für uns erst irgendwann nach dem Mittagessen zu grauen beginnen. Dann sagte sie mir, daß sie ins Bad müßte. Ich wartete, bis sie die Tür zumachte, dann rief ich zur Rezeption hinunter und bat sie, mich um sieben Uhr früh zu wecken. Ich versteckte schnell die kleine Nadelpistole aus Plastik im Bett, und Trudi kam aus dem Bad, das Kleid halboffen. Sie lächelte dieses wohlige und wissende Lächeln. Als sie so auf mich zukam, schoß mir der Gedanke durch den Kopf, daß ich mich zum erstenmal mit einer Kanone unter dem Kissen schlafengelegt hatte.
»Woran denkst du?« fragte sie.
»Daß du nicht schlecht aussiehst für ein echtes Mädchen.«
»Du magst keine echten Mädchen?« flüsterte sie mir ins Ohr.
»Ich war nur schon einige Zeit mit keinem mehr beisammen. Hat sich so ergeben.«
»Sind dir Spielsachen lieber?« flüsterte sie, aber es blieb kein Platz mehr zum Diskutieren.
Als das Telefon läutete, träumte ich gerade, daß meine Mutter mich anschrie. Sie brüllte so laut, daß ich sie nicht erkennen konnte, aber ich wußte, daß sie es war. Am Anfang stritten wir uns wegen Yasmin, doch es ging weiter. Wir stritten über die Stadt und darüber, daß man von mir nicht erwarten konnte, daß ich je etwas verstehen würde, weil ich immer nur an mich selbst dachte. Meine Rolle beschränkte sich darauf, »Das stimmt nicht!« zu brüllen, während mein Herz hämmerte.
Ich wachte um mich schlagend auf, brachte kaum die Augen auf und fühlte mich hundemüde. Ich blinzelte zum Telefon und nahm es schließlich ab. Eine Stimme sagte: »Guten Morgen. Sieben Uhr.« Dann klickte es. Ich steckte das Telefon wieder weg und setzte mich auf. Ich wollte tief Luft holen, mußte dazu aber zwei-, dreimal ansetzen. Ich wollte weiterschlafen, sogar wenn ich wieder so schrecklich träumen mußte. Ich wollte nicht aufstehen und noch mal so einen fürchterlichen Tag wie den gestrigen erleben.
Trudi lag nicht neben mir. Ich schwang mich aus dem Bett und lief nackt durch das kleine Hotelzimmer. Sie war auch nicht im Bad, aber sie hatte mir auf einem Zettel eine Nachricht hinterlassen. Sie lautete:
Lieber Marîd —,
Vielen Dank für alles. Du bist ein lieber, süßer Kerl.
Hoffentlich sehen wir uns mal wieder.
Ich mußjetzt gehen, doch ich bin sicher, Du hast nichts dagegen, wenn ich mir das Geld für die Fahrt aus Deiner Brieftasche nehme.
Ich hab Dich lieb,
Trudi
(Eigentlich heiße ich Gunter Erich v. S. Hast Du wirklich nichts gemerkt, oder wolltest Du nur nett sein?)
Was Sex anbelangt, kenne ich so ziemlich alles. Meine geheimsten Phantasien kreisen nicht um was, sie kreisen darum, mit wem. Ich habe alles gesehen und gehört, dachte ich. Das einzige, was ich noch nie jemand nachmachen hörte — bis letzte Nacht —, ist die typische Weise, wie Frauen einatmen, kurz bevor sie in Fahrt kommen. Ich sah mir Trudis Brief noch mal an und dachte daran, wie oft Jacques, Mahmoud, Saied und ich an einem Tisch im Solace saßen und die Passanten beobachteten. »Die da? Das ist eine Geschlechtsumwandlung von einer Frau in einen Mann, der jetzt als Tunte rumläuft.« Ich durchschaute alle. Dafür war ich berühmt.
Ich schwor, in Zukunft den Mund zu halten. Ob das Leben wohl einmal damit aufhörte, sich über uns lustig zu machen? Nein, das hieße zuviel zu verlangen. Es würde immer so weitergehen, die Scherze würden nur schlechter werden. In diesem Augenblick war ich mir sicher, daß, wenn das Alter und die Erfahrung dem kein Ende bereiten konnten, auch der Tod dazu nicht in der Lage sein würde.
Ich legte meine neuen Klamotten sorgfältig zusammen und packte sie in die Nylontasche. Heute zog ich wieder die Gallebeya und die Keffiya an. Wieder sah ich anders aus: arabische Tracht, aber ohne Bart. Der Mann mit den tausend Gesichtern. Heute wollte ich Hajjar beim Wort nehmen und mir die Dateien im Polizeicomputer ansehen. Ich wollte mir etwas Hintergrundinformationen über die Polizei besorgen. Und ich wollte soviel wie möglich über die Verbindung Okkings zu Bond/ Khan rausfinden.
Statt zu Fuß zu laufen, fuhr ich mit dem Taxi zur Polizeiwache. Nicht daß mich der Luxus, für den Papa zahlte, verdorben hätte, ich hatte einfach das Gefühl, daß allmählich die Zeit knapp wurde. Ich schlug die Zeit tot, obwohl es schon fünf vor zwölf für mich war. In meinem Kopf summten die Daddys, und ich spürte weder meine Muskeln noch Hunger und Durst. Ich hatte keine Angst und fühlte keinen Zorn. Vielleicht hätten mich einige gewarnt, daß es gefährlich werden konnte, wenn man keine Angst hatte. Vielleicht hätte ich Angst haben sollen, ein kleines bißchen.
Ich sah Okking beim Frühstücken in seiner lausigen Festung zu, während ich auf Hajjar wartete. Als der Inspektor kam, sah er mich zerstreut an. »Sie sind nicht die einzige Matschbirne, um die ich mich kümmern muß, Audran«, sagte er sauer. »Hier schwirren noch dreißig andere Schwachköpfe rum, die uns ihre Phantasien erzählen und Insiderinformationen, die sie geträumt oder aus dem Kaffeesatz gelesen haben.«
»Dann werden Sie ja froh sein, daß ich überhaupt nichts Neues für Sie habe. Ich will was von Ihnen erfahren. Sie haben gesagt, ich könnte mir Ihre Dateien ansehen.«
»Klar doch, aber nicht hier. Wenn Okking das mitkriegt, spaltet er mir den Schädel. Kommen Sie runter. Sie können eins der Terminals im zweiten Stock benutzen.«
»Es ist mir egal, wo es steht«, sagte ich. Hajjar telefonierte, stellte mir einen Ausweis aus, und ich unterschrieb ihn. Ich bedankte mich und machte mich auf den Weg zur Datenbank. Ein junge Dame mit südostasiatischen Gesichtszügen führte mich an einen nichtbenutzten Bildschirm, zeigte mir, wie man die Menüs aufrief, und teilte mir mit, daß alle weiteren Fragen die Maschine beantworten würde. Sie sei weder eine Computerfachfrau noch eine Bibliothekarin, sie organisiere nur den Betrieb hier unten.
Zuerst sah ich mir die allgemeinen Dateien an, die mehr oder weniger wie ein Zeitungsarchiv waren. Gab man einen Namen ein, erhielt man sämtliche Informationen, die zu dieser Person gespeichert waren. Der erste Name, den ich eingab, war Okking. Der Cursor blieb ein oder zwei Sekunden lang stehen, dann wurde der Bildschirm vollgeschrieben, von rechts nach links, auf arabisch. Ich erfuhr Okkings Vornamen, wie alt er war, seinen Geburtsort, was er gemacht hatte, bevor er in die Stadt gekommen war, das ganze Zeug, das auf einem Formular vor den entscheidenden zwei Linien steht. Darunter steht, was wirklich wichtig ist. Je nachdem, um wen es geht, kann das die Krankengeschichte des Betreffenden sein, sein Vorstrafenregister, seine Kreditwürdigkeit, seine politischen Aktivitäten und sexuellen Vorlieben oder was sonst noch eines Tages von Bedeutung sein könnte.
Bei Okking stand unter diesen zwei Linien nichts. Absolut nichts. Al-Sifr, null.
Anfangs dachte ich, irgend etwas mit dem Computer stimme nicht. Ich fing noch mal ganz von vorn an, ging ins erste Menü und wählte die gewünschten Informationen aus, dann gab ich Okkings Namen ein. Und wartete wieder.
Mâshî. Nichts.
Das war zweifellos Okking gewesen. Er hatte seine Spuren verwischt, so wie sein Bursche Khan jetzt die seinen verwischte. Wenn ich an Okkings Geburtsort in Europa reiste, könnte ich mehr über ihn erfahren, aber nur über den Zeitraum, bevor er hierher kam. Ab da hörte er auf zu existieren, was die Aktenlage anging.
Ich gab Universal Exports ein, den Codenamen von James Bonds Spionagegruppe. Ich hatte ihn mal auf einem Umschlag in Okkings Schreibtisch liegen sehen. Wieder Fehlanzeige.
Читать дальше