»Khan kommt näher«, sagte Okking, »aber der andere hat seit Nikki keinen Muckser mehr getan.«
»Ich weiß nicht, was das soll. Trudi ist doch nicht Khan, Kommissar. Ich meine, hätte sie James Bond sein können?«
Er sah mich an, als wäre ich endgültig durchgedreht. »Wie, zum Teufel, soll ich das wissen? Ich habe James Bond nie persönlich getroffen, wir haben nur miteinander telefoniert oder uns Nachrichten zugeschickt. Soweit ich informiert bin, sind Sie die einzige lebende Person, die ihn je von Angesicht zu Angesicht gesehen hat. Deshalb fällt es mir so schwer, Audran, diesen leisen Verdacht, den ich gegen Sie habe, fallenzulassen. Irgend etwas stimmt mit Ihnen nicht.«
Mit mir, dachte ich. Der hatte Nerven, dabei war er selbst ein von den Nationalsozialisten bezahlter ausländischer Agent. Es stimmte mich nicht gerade froh, daß Okking Khan bei einer Gegenüberstellung nicht erkennen würde, falls wir ihn erwischten. Ich wußte nicht, ob der Kommissar log, aber wahrscheinlich sagte er die Wahrheit. Er wußte, daß er in der Liste weit oben stand, wenn nicht ganz oben. Auch den Vorsatz, sein Büro nicht zu verlassen, hatte er in die Tat umgesetzt: Auf dem Schreibtisch stand ein Tablett mit einer halb fertiggegessenen Mahlzeit, und daneben war ein Feldbett aufgestellt worden.
»Das einzige, was wir mit Sicherheit sagen können, ist, daß beide ihre Moddys nicht nur zum Töten benutzen, sondern auch, um Schrecken zu verbreiten. Und das klappt ganz gut«, sagte ich. »Ihr Kerl …« Okking warf mir einen bösen Blick zu, aber es stimmte nun mal, verflucht. »Ihr Kerl wechselte von Bond zu Khan. Der andere Kerl ist noch immer derselbe, soviel wir wissen. Ich hoffe nur, der russische Killer ist nach Hause abgedampft. Ich wünschte, wir könnten das mit Sicherheit sagen, dann bräuchten wir uns wenigstens um ihn keine Sorgen mehr zu machen.«
»Ja«, erwiderte Okking.
»Haben Sie aus Trudi etwas Nützliches rausbekommen, bevor Sie sie nach unten schickten?«
Okking zuckte die Achseln popelte mit den Fingern an seinem Sandwich rum. »Nur das Übliche. Wie sie heißt und so.«
»Es würde mich interessieren, wie sie an Seipolt geraten ist.«
Okking hob die Augenbrauen. »Ganz einfach, Audran. Seipolt hat diese Woche am meisten geboten.«
Ich atmete tief durch. »Sowas habe ich mir gedacht, Kommissar. Sie sagte mir, jemand habe sie mit Seipolt bekanntgemacht.«
»Mahmoud.«
»Mahmoud? Mein Freund Mahmoud? Der früher, vor seiner Geschlechtsumwandlung, bei Jo-Mama anschaffen ging?«
»Genau.«
»Was hat Mahmoud damit zu tun?«
»Während Sie im Krankenhaus lagen, wurde Mahmoud befördert. Er wurde Abdullahs Nachfolger.«
Mahmoud. Ohne großen Aufwand vom hübschen jungen Ding, das in griechischen Clubs malochte, zum gewieften Spitzbuben und schließlich zum weißen Sklaventreiber. Alles, was mir dazu einfiel, war: »Wo sonst als im Budayin?« Soviel zu gleichen Chancen für alle. »Ich muß mit Mahmoud reden«, sagte ich.
»Stellen Sie sich hinten an. Er kommt hierher, sobald ihn meine Burschen aufgetrieben haben.«
»Sagen Sie mir, was Sie aus ihm rausgebracht haben.«
Okking grinste höhnisch. »Selbstverständlich. Habe ich es Ihnen nicht versprochen? Habe ich es Papa nicht versprochen? Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?«
Ich stand auf und beugte mich über seinen Schreibtisch. »Passen Sie mal auf, Okking. Ihnen macht es anscheinend nichts aus, wenn Sie in das Wohnzimmer von netten Leuten kommen und überall Leichenteile herumliegen. Aber ich muß bei diesem Anblick kotzen.« Ich zeigte ihm die letzte Nachricht, die ich von Khan erhalten hatte. »Ich will wissen, ob ich eine Pistole oder was bekommen kann.«
»Was kümmert mich das?« sagte er leise. Die Nachricht Khans schien ihn geradezu zu hypnotisieren. Ich wartete. Er sah hoch, fing meinen Blick auf und seufzte. Dann zog er eine Schublade in seinem Schreibtisch auf und nahm ein paar Waffen heraus. »Was wollen Sie?«
Ein paar Nadelpistolen, Schockrevolver und ein großkalibriges Gewehr, sogar eine große Automatik, die noch Projektile verschoß, lagen da. Ich entschloß mich für eine kleine Smith & Wesson-Nadelpistole und die großkalibrige Kanone von General-Electric. Okking legte mir eine Schachtel mit kalibrierten Nadelgeschossen auf sein Dienstbuch, zwölf Nadeln pro Magazin, hundert Magazine in der Schachtel. Ich nahm sie an mich. »Danke«, sagte ich.
»Fühlen Sie sich nun sicher? Geben sie Ihnen ein Gefühl der Unverwundbarkeit?«
»Fühlen Sie sich unverwundbar, Okking?«
Seine Mundwinkel zuckten, und er hörte auf zu grinsen. »Scheiß drauf«, sagte er. Mit einer Handbewegung bedeutete er mir zu verschwinden. Ich ging, zutiefst dankbar.
Als ich aus dem Gebäude trat, dämmerte es bereits im Osten. Die Muezzinrufe waren in der ganzen Stadt zu hören. An diesem Tag war viel passiert. Ich hatte das Bedürfnis nach einem Drink, aber es gab noch einiges zu erledigen, bevor ich mir etwas Entspannung erlauben konnte. Ich ging zum Hotel und in mein Zimmer hoch. Ich zog die Gallebeya aus und nahm die Kopfbedeckung ab. Dann duschte ich mich. Ich ließ das heiße Wasser länger als eine Viertelstunde lang über meinen Körper laufen. Ich drehte mich nur etwas, so wie ein Lamm am Spieß. Ich wusch mir zwei- oder dreimal die Haare und das Gesicht. Es war schade, aber es mußte sein: Der Bart mußte weg. Ich war wiefer geworden, aber Khans Nachricht in meinem Fach bewies, daß ich immer noch nicht gewieft genug war. Als erstes schnitt ich meinen langen, rotbraunen Bart ab.
Meine Oberlippe hatte ich das letztemal als Teenager gesehen. Es fiel mir daher nicht leicht, mir mit dem Rasiermesser den Bart abzuschaben. Doch es ging schnell vorbei, und bald war ich wirklich neugierig, wie ich darunter aussah. Fünfzehn Minuten später war der Bart ganz ab, und die Haut in meinem Gesicht brannte und hatte überall hellrote Schnitte.
Als ich merkte, an wen mich mein Spiegelbild erinnerte, hielt ich seinen Anblick nicht mehr aus. Ich spritzte mir kaltes Wasser ins Gesicht und trocknete mich ab. Ich stellte mir vor, Friedlander Bei und der restlichen Mischpoke eine lange Nase zu drehen. Dann könnte ich nach Algerien verschwinden und den Rest meines Lebens damit verbringen, den Ziegen beim Sterben zuzusehen.
Ich kämmte mich und ging ins Schlafzimmer, wo ich die Pakete aus dem Herrenbekleidungsgeschäft öffnete. Ich zog mich langsam an und hing dabei meinen Gedanken nach. Ein Gedanke drängte sich immer wieder vor: Was immer auch passieren würde, ich würde nie wieder ein Persönlichkeitsmodul einstecken.
Daddys waren kein Problem, sie erweiterten bloß meine Persönlichkeit. Aber keine menschliche Denkmaschine, ob sie nun wirklich gelebt hatte oder nur einem Roman entsprungen war, brachte mir etwas. Keine von ihnen kannte meine Lage, keine war jemals im Budayin gewesen. Ich mußte mich auf meinen eigenen Verstand verlassen, nicht auf den eines irrelevanten Konstrukts.
Es tat mir gut, daß das geklärt war. Das war der Kompromiß, nach dem ich suchte, seit Papa mir eröffnet hatte, ich würde mich verdrahten lassen. Ich lächelte. Ein Stein — von vernachlässigenswertem Gewicht, höchstens ein Viertelpfund — fiel mir vom Herzen.
Ich werde nicht ausplaudern, wie lange ich zum Binden der Krawatten brauchte. Es gibt bereits vorgebundene Krawatten, aber in dem Geschäft, in dem ich alles gekauft hatte, blickte man auf sowas herab.
Ich steckte das Hemd in die Hose, machte alles zu, zog die Schuhe an und schlüpfte in die Anzugjacke. Dann machte ich einen Schritt zurück und betrachtete mich im Spiegel. Ich wischte mir die Reste getrockneten Bluts vom Kinn und vom Hals ab. Ich sah gut aus, schärfer als eine Rasierklinge und mit dem nötigen Kleingeld versehen. Sie verstehen schon. Ich war noch immer der gleiche: Die Klamotten waren erste Sahne. Das war gut so, weil die meisten Leute ohnehin als erstes auf die Kleidung sehen. Wichtiger war, daß ich das erstemal glaubte, der Alptraum wäre bald zu Ende. Ich hätte die längste Wegstrecke in einem finsteren Tunnel hinter mir, und nur noch zwei düstere Gestalten verbargen das willkommene Licht am Ende.
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