Sie nickte. »Wir werden das nicht mehr lange machen können.«
»Wir könnten uns im alten Farmhaus treffen«, sagte er.
»Du weißt, ich kann nicht.«
»Was passiert denn, wenn du die Grenzlinie überquerst? Geht ein feuerspeiender Drache auf dich los?«
Sie lachte.
»Nein, wirklich, was passiert? Hast du es mal versucht?«
Jetzt setzte sie sich auf und preßte ihre verschränkten Arme an ihren nackten Körper. »Mir ist wirklich kalt. Ich sollte mich anziehen.«
Mark nahm ihre Tunika aus ihrer Reichweite. »Zuerst sag mir, was passiert.«
Sie griff nach ihrem Gewand, verfehlte es, fiel über ihn, und für einen Augenblick lagen sie eng umschlungen. Er zog eine Decke über sie und streichelte ihren Rücken. »Was passiert?«
Sie seufzte und löste sich von ihm. »Einmal hab’ ich es versucht«, sagte sie. »Ich wollte heim, zu meinen Schwestern. Ich weinte und weinte, und das half nichts. Ich konnte die Lichter sehen und wußte, daß sie kaum hundert Meter weit entfernt von mir waren. Zuerst rannte ich, dann wurde mir komisch, als ob ich gleich umkippen würde. Ich mußte stehenbleiben. Ich war fest entschlossen, zu ihrem Dormitorium zu kommen. Dann ging ich weiter, nicht sehr schnell. Als ich der Grenzlinie näher kam — nur eine Hecke, weißt du, eine Rosenhecke, an beiden Seiten offen, so daß man ohne weiteres drumherumgehen kann. Als ich nahe dran war, überkam mich wieder das komische Gefühl, und alles fing an, sich zu drehen. Ich wartete lange, und es hörte nicht auf, aber ich dachte, wenn ich nur auf meine Füße schaute und auf sonst nichts achtete, käme ich schon durch. Also ging ich weiter.« Starr lag sie nun neben ihm, und ihre Stimme war fast nicht mehr zu hören, als sie fortfuhr. »Ich fing an, mich zu erbrechen. Das ging immer weiter, bis nichts mehr in mir war, und dann spuckte ich Blut. Und dann bin ich wohl ohnmächtig geworden. Als ich aufwachte, war ich in meinem Zimmer im Brutfrauenhaus.«
Zärtlich berührte Mark ihre Wange und zog sie an sich. Sie zitterte heftig. »Shh, shh«, beruhigte er sie. »Ist ja gut. Jetzt ist es ja gut.«
Keine Mauern schlossen sie ein, dachte er und streichelte ihr Haar. Kein Zaun hielt sie zurück, und doch konnten sie nicht zum Fluß gehen; sie konnten nicht näher an die Mühle heran, als sie jetzt waren; sie konnten weder an der Rosenhecke vorbei, noch in den Wald gehen.
Aber Molly hatte es getan, dachte er grimmig. Und sie würden es auch tun.
»Ich muß zurück«, sagte sie. Der gequälte Ausdruck trat wieder in ihr Gesicht. Die Leere, wie sie es genannt hatte. »Du kannst das nicht verstehen«, hatte sie gesagt und eine Erklärung versucht. »Wir sind nicht getrennt, weißt du. Meine Schwestern und ich waren wie ein einziges Wesen, und nun bin ich nur noch ein Bruchstück davon. Manchmal kann ich es für kurze Zeit vergessen; wenn ich bei dir bin, vergesse ich es für eine Weile, aber es kommt zurück, und dann ist wieder die Leere da. Wenn du mich von innen nach außen umstülpen würdest, nichts würde herauskommen, gar nichts.«
»Brenda, ich muß mit dir reden, bevor du gehst«, sagte Mark. »Du bist seit vier Jahren hier, nicht wahr? Und zweimal warst du schwanger. Bald ist es wieder soweit, nicht wahr?«
Sie nickte und schlüpfte in ihre Tunika.
»Hör zu, Brenda. Diesmal wird es anders sein als früher. Sie wollen Clones von sich selbst züchten und sie von den Brutfrauen austragen lassen. Verstehst du, was ich meine?«
Sie schüttelte den Kopf, hörte aber zu; bemühte sich, zu verstehen.
»Also gut. Sie ändern die Formel der Chemikalien, die sie für die Clones in den Tanks benützen. Danach können sie beliebig viele Clone-Generationen von einer Person erzeugen, aber die neuen Clones sind geschlechtslos. Sie können nicht selbständig denken; sie können weder zeugen noch empfangen, sie werden niemals eigene Kinder haben. Und die Ratsmitglieder befürchten, daß die wissenschaftlichen Fähigkeiten, das handwerkliche Können verlorengehen, Miriams Zeichentalent zum Beispiel, ihr visuelles Gedächtnis — all das könnte verlorengehen, wenn sie es nicht durch Cloning für die nächste Generation sichern. Da sie die Tanks dafür nicht benutzen können, benützen sie die fruchtbaren Frauen als Wirtinnen. Sie werden euch Clones austragen lassen, Drillinge jeweils. Und in neun Monaten bringt ihr dann drei neue Andrews, oder drei neue Miriams oder Lawrences zur Welt. Sie werden die kräftigsten, gesündesten jungen Frauen dafür benützen. Der Rest steht weiterhin für die künstliche Besamung zur Verfügung. Wenn sie ein neues Talent produzieren, das sie gebrauchen können, machen sie von dem Betreffenden mehrere Clone-Keime und verpflanzen die in eure Körper; auf diese Weise sichern sie sich zunächst für eine Generation den Fortbestand des Talents in einigen einzelnen, die damit noch selbständig und kreativ umgehen können.«
Sie starrte ihn an, seine Intensität war ihr ein Rätsel. »Was macht das für einen Unterschied?« fragte sie. »Wenn wir auf diese Weise der Gemeinschaft am besten dienen können, dann ist doch klar, was wir tun müssen.«
»Die neuen Babys aus den Tanks werden nicht einmal mehr Namen haben«, sagte Mark. »Sie werden die Bennies oder Bonnies oder Judies sein, alle von einer Gruppe, und ihre Clones werden so heißen, und deren.«
Wortlos schnürte sie ihre Sandalen.
»Und du? Wie oft, glaubst du, kannst du Drillinge austragen? Dreimal, viermal?«
Sie hörte ihm nicht mehr zu.
Mark kletterte auf den Hügel über dem Tal und setzte sich auf einen Felsen; von dort aus betrachtete er die Menschen unten, die ausgedehnte Farm, die Jahr um Jahr gewachsen war, bis sie schließlich das ganze Tal, bis hin zur Biegung des Flusses, füllte. Einzig das alte Haus war eine Oase von Bäumen inmitten der herbstlichen Felder, die jetzt wie eine Wüste aussahen. Vieh trottete gemächlich zu den großen Ställen. Eine Gruppe kleiner Jungen wurde sichtbar, die irgendein Spiel spielten, bei dem sie laufen, sich fallen lassen und wieder laufen mußten. Zwanzig oder mehr spielten miteinander. Er war zu weit weg, sie hören zu können, aber er wußte, sie lachten.
»Was habe ich dagegen?« sagte er laut und war überrascht, als er seine eigene Stimme hörte. Der Wind strich durch die Bäume, aber keine Worte kamen, keine Antwort.
Sie waren zufrieden, glücklich sogar, und er, der Außenseiter, wollte das in seiner Unzufriedenheit zerstören, nur um zu befriedigen, was offenbar selbstsüchtige Bedürfnisse waren. Ein Einsamer, wollte er ein ganzes Gemeinwesen zerschlagen, das prächtig gedieh und zufrieden war.
Die Ella-Schwestern erschienen in seinem Blickfeld, zehn an der Zahl, jede einzelne körperlich eine Kopie der Mutter. Einen Augenblick lang sah er in seinem Geiste Molly, wie sie hinter dem Busch hervorlugte, mit ihm lachte. Das Bild verging, und er sah den Mädchen nach, wie sie zum Dormitorium gingen. Drei der Miriam- Schwestern kamen heraus, die beiden Gruppen blieben stehen und unterhielten sich miteinander.
Mark dachte daran, wie Molly auf dem Zeichenpapier Menschen zum Leben erweckt hatte — eine Betonung hier, eine dort, eine Augenbraue zu hoch, ein Grübchen zu tief, immer irgend etwas, das nicht ganz stimmte, der Zeichnung aber Leben gab. Sie konnten das nicht, dachte er. Weder Miriam noch ihre kleinen Ella-Schwestern, keine von ihnen. Diese Gabe war dahin, vielleicht für immer verloren. Jede Generation verlor etwas; in manchen Fällen war es unwiederbringlich, in manchen konnte der Verlust nicht sofort identifiziert werden. Everetts kleine Brüder konnten neu auftretende Schwierigkeiten im Computer-Terminal nicht bewältigen; sie konnten, wenn der Strom für einige Tage ausfiel, nicht lange genug improvisieren, um die Foetusse in den Tanks zu retten. Solange die Älteren die Probleme, die wahrscheinlich auftauchen würden, voraussehen und die jungen Clones durch Training dafür rüsten konnten, waren sie einigermaßen sicher, aber Pannen hatten es so an sich, nicht erwartet, Katastrophen, nicht vorhersagbar zu sein; ein größerer Unfall konnte alles im Tal zerstören, einfach deswegen, weil niemand für diese besondere Situation trainiert worden war.
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