»Natürlich! Rulag kennt nichts als Feindseligkeit. Sie will dir nur die Möglichkeit der Heimkehr nehmen.«
»Das ist richtig. Das trifft es genau.« Er lehnte sich wieder zurück und betrachtete Takver mit nachdenklicher Bewunderung. »Aber Rulag ist leider nicht die einzige. Für viele Menschen würde jeder, der nach Urras geht und wieder hierher zurückkommen will, nichts weiter als ein Verräter sein, ein Spion.« »Und was würden sie dagegen tun?«
»Nun, wenn sie die Verteidigung von der Gefahr überzeugen könnten, würden die das Schiff vielleicht abschießen.« »Würde die Verteidigung wirklich so dumm sein?« »Ich glaube nicht. Aber jeder, auch wenn er nicht zur Verteidigung gehört, könnte mit Schießpulver Sprengkörper herstellen und das Schiff in die Luft sprengen, wenn es landet. Oder — wahrscheinlicher — mich überfallen, sobald ich das Schiff verlassen habe. Das halte ich für eine praktikable Möglichkeit. Man müßte sie in den Plan für eine Besichtigungsfahrt zu den Sehenswürdigkeiten auf Urras aufnehmen.«
»Würde es sich für dich lohnen — das Risiko?« Eine Weile starrte er ins Leere. »Ja«, antwortete er dann, »in gewisser Weise schon. Ich könnte dort meine Theorie beenden und sie ihnen geben — uns und ihnen und allen anderen Welten. Das wäre schön. Hier bin ich eingemauert. Es ist zu eng, die Arbeit fällt mir schwer, ich kann nicht richtig experimentieren, ohne die entsprechende Ausrüstung, ohne Kollegen und ohne Studenten, die mir behilflich sind. Und wenn ich sie fertig habe, wollen sie meine Arbeit nicht. Und wenn sie sie doch wollen, wie Sabul, verlangen sie von mir, daß ich die Initiative gegen Anerkennung eintausche… Meine Arbeit werden sie erst verwenden, wenn ich tot bin, wie das immer geschieht. Aber warum soll ich mein Lebenswerk Sabul schenken, allen Sabuls, all den miesen, kleinen, hinterhältigen, habgierigen Egos eines einzigen Planeten? Ich möchte es allen geben. Es ist ein großes Thema, an dem ich arbeite. Es muß verteilt werden, an alle! Groß genug ist es.«
»Es lohnt sich also«, sagte Takver.
»Was lohnt sich?«
»Das Risiko. Daß du vielleicht nicht zurückkehren kannst.«
»Daß ich nicht zurückkehren kann…« Er betrachtete Takver mit einem seltsam eindringlichen, und dennoch abwesenden Blick.
»Ich glaube, wir haben mehr Menschen auf unserer Seite, auf der Seite des Syndikats, als wir es uns vorstellen. Nur daß wir eben noch nicht viel getan haben, getan, um sie zusammenzuschließen, kein Risiko auf uns genommen haben. Wenn man das täte, würden sie uns, glaube ich, zu Hilfe kommen. Wenn man die Tür aufmachte, würden sie wieder frische Luft riechen, würden sie die Freiheit riechen.«
»Und würden vielleicht angerannt kommen, um die Tür schleunigst wieder ins Schloß zu werfen…«
»Wenn sie das tun, ist ihnen nicht zu helfen. Das Syndikat kann dich bei der Landung schützen. Und wenn die Leute dann immer noch so feindselig und so voll Haß sind, sagen wir einfach, zur Hölle mit ihnen, was nützt eine anarchistische Gesellschaftsform, die sich vor Anarchisten fürchtet? Wir werden fortgehen und in der Einsamkeit, in Obersedep, in Uttermost leben, oder, wenn's sein muß, in die Berge gehen und dort ganz allein leben. Platz genug gibt es. Und es gibt bestimmt Menschen, die mit uns kommen wollen. Wir werden eine neue Kommune gründen. Wenn unsere Gesellschaft so tief sinkt, daß sie Politik und Machtstreben toleriert, dann ist es höchste Zeit, daß wir auf und davon gehen und ein Anarres über Anarres hinaus gründen, einen neuen Anfang machen. Na wie klingt das ?«
»Wunderbar«, antwortete er, »ganz wunderbar, mein Herz. Aber ich gehe nicht nach Urras.«
»O doch! Und du wirst wieder heimkommen«, entgegnete Takver. Ihre Augen waren sehr dunkel, es war ein weiches Dunkel, wie das Dunkel eines Waldes bei Nacht. »Wenn du es willst. Du erreichst immer, was du willst. Und du kommst immer wieder zurück.«
»Sei nicht dumm, Takver! Ich gehe nicht nach Urras.«
»Ich bin müde«, sagte Takver. Sie reckte sich und kam herüber, um ihre Stirn auf seinen Arm zu legen. »Laß uns zu Bett gehen.«
13. Kapitel
Urras — Anarres
Bevor sie sich aus dem Orbit lösten/füllte der bewölkte Türkis von Urras, die Aussichtsluken, immens und schön. Dann drehte sich das Schiff, und die Sterne kamen in Sicht, unter ihnen ein runder, heller Felsbrocken, Anarres: In Bewegung, und doch nicht bewegt, von welcher Hand geworfen, zeitlos kreisend, Zeit schaffend.
Sie führten Shevek durch das Schiff, das Interstellarschiff Davenant. Der Unterschied zum Frachter Mindful hätte nicht größer sein können. Von außen wirkte es wie eine bizarre, zerbrechliche Skulptur aus Glas und Draht, ganz und gar nicht wie ein Schiff, nicht einmal Bug und Heck hatte es, denn es flog nie durch eine Atmosphäre, die dicker gewesen wäre als die des interplanetarischen Raums. Innen war es so geräumig und fest wie ein Haus. Die Räume waren groß, abgeschlossen, die Wände mit Holz getäfelt oder mit gewebten Textilien bedeckt, die Decken hoch. Nur war es ein Haus mit herabgelassenen Jalousien, denn nur wenige Räume hatten Aussichtsluken, und es war überall sehr, sehr still. Sogar auf der Brücke und in den Maschinenräumen herrschte diese seltsame Stille, und die Maschinen und Instrumente waren in ihrem Design ebenso schlicht und funktionell wie die Einrichtung eines Segelschiffs. Zur Entspannung gab es sogar einen Garten, dessen Beleuchtung dem Sonnenlicht angepaßt war, und die Luft duftete süß nach Erde und Laub; während der Schiffsnacht wurde der Garten verdunkelt, und seine Aussichtsluken gaben den Blick auf die Sterne frei.
Obwohl die Interstellarreisen jeweils nur wenige Stunden oder Tage Schiffszeit in Anspruch nahmen, verbrachte ein Schiff, das beinahe mit Lichtgeschwindigkeit dahinflog, unter Umständen Monate mit der Erforschung eines Sonnensystems oder blieb jahrelang in der Umlaufbahn eines Planeten, auf dem die Besatzung lebte oder den sie erkundete. Daher bot es sehr viel Geräumigkeit, allen möglichen Komfort und war für jene, die an Bord bleiben mußten, überaus angenehm zu bewohnen. Im Stil verriet es weder den Luxus von Urras noch die herbe Schlichtheit von Anarres, sondern man hatte, mit der Mühelosigkeit langer Praxis, einen schön ausgeglichenen Mittelweg gefunden. Man konnte sich vorstellen, daß man hier leben konnte, ohne durch die erforderlichen Einschränkungen allzu sehr belastet zu werden, zufrieden, mit den eigenen Gedanken beschäftigt. Und sie waren ein nachdenkliches Volk, die Hainish, die zur Besatzung gehörten — höflich, rücksichtsvoll, ein wenig düster. Spontaneität kannten sie kaum. Der jüngste von ihnen wirkte älter als alle an Bord befindlichen Terraner.
Doch Shevek kümmerte sich während des dreitägigen Flugs nach Anarres, den die Davenant mit ihrem chemischen Antrieb in der konventionellen Geschwindigkeit zurücklegte, kaum um Terraner und Hainish im Schiff. Er antwortete, wenn man ihn ansprach; er beantwortete bereitwillig Fragen; aber er selbst stellte nur sehr wenige. Wenn er sprach, geschah es aus einem inneren Schweigen heraus. Die Besatzungsangehörigen der Davenant, vor allem die jüngeren, fühlten sich zu ihm hingezogen, als besitze er etwas, das ihnen fehlte, oder als sei er etwas, das sie zu sein wünschten. Sie unterhielten sich untereinander oft über ihn, waren ihm gegenüber jedoch scheu. Er war sich dessen nicht bewußt. Er war sich ihrer überhaupt kaum bewußt. Er war sich nur der Tatsache bewußt, daß vor ihnen Anarres lag. Er war sich der betrogenen Hoffnung und des gehaltenen Versprechens bewußt; des Mißerfolgs; und der endlich erschlossenen Quelle der Freude in seinem Geist. Er war ein Mann, der aus dem Gefängnis entlassen wird, der zu seiner Familie heimkehrt. Was immer ein solcher Mann an seinem Weg entdeckt, sieht er höchstens als Lichtreflexe in den Augenwinkeln.
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