Shevek hatte sich mit einem Notizbuch und der Schiefertafel, die er zum Rechnen benutzte, am Kopfende ihrer Bettplattform niedergelassen.
»Ich habe heute das Manuskript paginiert«, sagte Takver.
»Und wieviel ist es geworden?«
»Einundvierzig Seiten. Mit dem Nachtrag.«
Er nickte. Takver stand auf, sah über die Trennwand hinweg nach den schlafenden Kindern, kam zurück und setzte sich auf den Rand der Plattform.
»Ich wußte, daß irgend etwas los war. Aber sie hat kein Wort gesagt. Das tut sie nie, sie ist eben so… so in sich gekehrt. Und ich wäre nie darauf gekommen, daß es dies war. Ich dachte, dies wäre allein unser Problem, ich hätte nie gedacht, daß sie es an den Kindern auslassen.« Sie sprach leise und voll Bitterkeit. »Es wächst, und es wächst immer weiter… Wird es in einer anderen Schule anders sein?«
»Das weiß ich nicht. Wenn sie sehr häufig bei uns ist, vielleicht nicht.«
»Du willst doch nicht etwa behaupten…«
»Nein, gewiß nicht. Ich stelle lediglich eine Tatsache fest. Wenn wir dem Kind intensive individuelle Liebe schenken, können wir ihm auch nicht das ersparen, was damit immer Hand in Hand geht, das Risiko, leiden zu müssen. Durch uns leiden zu müssen.«
»Aber es ist nicht fair, daß sie unter dem, was wir tun, leiden muß! Sie ist so gut, so gutmütig, wie klares Wasser…« Takver hielt inne, erstickt durch aufsteigende Tränen, trocknete sich die Augen, preßte die Lippen zusammen.
»Nicht unter dem, was wir tun, nur unter dem, was ich tue.« Er legte sein Notizbuch hin. »Du mußt ja auch darunter leiden.«
»Mir ist es gleich, was die Leute denken.«
»Auch bei der Arbeit?«
»Ich kann einen anderen Posten annehmen.«
»Nicht hier, nicht auf deinem Spezialgebiet.«
»Na und? Willst du, daß ich woanders hingehe? Die SorrubaFischereilabors in Frieden-und-Fülle würden mich nehmen. Aber wo bleibst dann du?« Ärgerlich sah sie ihn an. »Hier etwa?«
»Ich könnte mitkommen. Skovan und die anderen machen gute Fortschritte mit ihrem lotisch, sie werden das Funkgerät bald allein bedienen können, und das ist im Augenblick meine Hauptfunktion beim Syndikat. Meine Physikarbeiten kann ich in Frieden-und-Fülle genausogut weiterführen wie hier. Doch wenn ich nicht tatsächlich aus dem Syndikat austrete, ist das Problem auch dann nicht gelöst, nicht wahr? Ich bin nämlich das Problem, ich allein. Ich bin derjenige, der Ärger macht.«
»Ob man sich in einem kleinen Ort wie Frieden-und-Fülle um so was kümmert?« — »Ich fürchte ja.«
»Shev, wie sehr hast du dich mit diesem Haß schon herumschlagen müssen? Hast du es mir einfach verschwiegen, wie Sadik?«
»Und wie du. Nun ja, gelegentlich. Als ich im letzten Sommer nach Concord ging, war es ein bißchen schlimmer, als ich es dir geschildert habe. Steine wurden geworfen, es gab sogar eine richtige Prügelei. Die Studenten, die mich gebeten hatten zu kommen, mußten sich für mich schlagen. Das taten sie auch, aber ich habe gemacht, daß ich fortkam; ich brachte sie nur in Gefahr. Nun gut, Studenten lieben die Gefahr. Und schließlich hatten wir diesen Kampf herausgefordert, hatten die Leute absichtlich in Rage gebracht. Und eine Menge waren auf unserer Seite. Jetzt aber… frage ich mich allmählich, ob ich nicht dich und die Kinder gefährde, Tak. Nur dadurch, daß ich bei euch bleibe.«
»Aber du selbst, du bist natürlich nicht in Gefahr!« sagte sie hitzig.
»Ich habe sie herausgefordert. Aber ich hätte niemals gedacht, daß sich ihr Sippenhaß auch auf euch erstrecken würde. Die Gefahr, in der ihr schwebt, erschreckt mich mehr als die, in der ich selber schwebe.« »Altruist!«
»Mag sein. Ich kann's nicht ändern. Ich fühle mich verantwortlich, Tak. Ohne mich könntet ihr überall hingehen, oder auch hier wohnen bleiben. Du hast zwar für das Syndikat gearbeitet, doch was sie dir übelnehmen, ist deine Loyalität zu mir. Ich bin das Symbol. Für mich gibt es keinen Ort, an den ich mich zurückziehen könnte.«
»Geh nach Urras«, sagte Takver. Ihre Stimme war so rauh, daß Shevek zurückfuhr, als hätte sie ihn ins Gesicht geschlagen.
Sie sah ihm nicht in die Augen, sondern wiederholte nur, jetzt noch leiser: »Geh nach Urras… Warum eigentlich nicht? Du bist dort willkommen. Hier dagegen wollen sie dich nicht. Vielleicht sehen Sie hier dann ein, was sie an dir verloren haben… Und du möchtest doch gehen. Das habe ich heute abend gemerkt. Ich habe nie daran gedacht, aber als wir über den Preis sprachen, beim Essen, da habe ich es gemerkt, an der Art, wie du gelacht hast.«
»Ich brauche weder Preise noch Belohnungen!«
»Nein, aber du brauchst Anerkennung und Diskussion und Studenten — ohne die Bedingungen, die Sabul daran knüpft. Und außerdem: Du und Dap, ihr redet immer davon, der PDK mit der Idee, daß jemand nach Urras gehen müßte, um sein Recht auf Selbstbestimmung zu demonstrieren, zu schockieren. Aber wenn ihr immer nur davon redet und keiner wirklich hingeht, macht ihr die Opposition ja doch nur stärker, beweist ihr damit, daß man eine Gewohnheit nicht brechen kann. Jetzt, wo ihr das Thema bei der PDK-Versammlung angeschnitten habt, muß einfach jemand hinfahren. Und das müßtest du sein. Dich haben sie nach Urras eingeladen; du hast einen Grund für die Reise. Geh und hol dir deinen Preis — das Geld, das sie dort für dich aufbewahren«, schloß sie mit einem unvermittelten, aber ganz und gar echten Lachen.
»Aber ich will gar nicht nach Urras, Takver!«
»Doch, du willst, das weißt du genau. Obwohl ich nicht genau weiß, warum.« — »Na ja, ich möchte natürlich die Physiker kennenlernen… Und die Labors in Ieu Eun sehen, wo sie Lichtforschung treiben.« Seine Miene war beschämt, als er es sagte.
»Und das ist dein gutes Recht«, erklärte Takver voll Energie. »Wenn es zu deiner Arbeit gehört, mußt du es tun.«
»Es würde dazu beitragen, die Revolution am Leben zu halten, nicht wahr — auf beiden Seiten?« sinnierte er. »Eine wahrhaft verrückte Idee! Wie Tirins Stück, nur umgekehrt. Ich werde die Archisten unterminieren… Nun, das wird ihnen wenigstens beweisen, daß Anarres tatsächlich existiert. Sie unterhalten sich mit uns über Funk, aber ich habe das Gefühl, daß sie in Wirklichkeit nicht an uns glauben. An das, was wir sind.«
»Wenn sie das täten, hätten sie vielleicht Angst. Dann kämen sie vielleicht und würden uns in die Luft sprengen — falls du sie wirklich überzeugen kannst.«
»Das glaube ich nicht. Ich stifte vielleicht wieder mal eine kleine Revolution in ihrer Physik, aber sicher nicht in ihrer Weltanschauung. Nein, nur hier kann ich auf die Gesellschaft einwirken, obwohl man hier nichts von meiner Physik hält. Du hast ganz recht: Jetzt, da wir es offen ausgesprochen haben, müssen wir handeln.« Eine Pause entstand. Dann sagte er: »Ich möchte wissen, wie die Physik der anderen Rassen aussieht.«
»Welcher anderen Rassen?«
»Der fremden. Der Leute von Hain und anderen Sonnensystemen. Auf Urras gibt es zwei außerplanetarische Botschaften, die von Hain und die von Terra. Die Hainish haben den Interstellarantrieb erfunden, den die Urrasti jetzt benutzen. Uns würden sie ihn vermutlich auch geben, wenn wir sie darum bäten. Es wäre wirklich interessant, zu erfahren…»Er beendete den Satz nicht.
Nach einer langen Pause wandte er sich zu ihr um und sagte in einem ganz anderen, sehr ironischen Ton: »Und was würdest du machen, während ich bei den Propertariern zu Besuch weile?«
»Mit den Kindern an die Sorruba-Küste umziehen und ein sehr friedliches Leben als Fischlabor-Technikerin führen. Bis du zurückkommst.«
»Zurückkommen? Wer weiß, ob ich zurückkommen kann?« Sie sah ihm offen in die Augen. »Was sollte dich hindern?« »Vielleicht die Urrasti. Vielleicht wollen sie mich dort festhalten. Sie lassen niemanden frei kommen und gehen, wie er will, das weißt du. Vielleicht auch unsere eigenen Leute. Vielleicht hindern sie mich an der Landung. In der PDK haben mir das heute einige angedroht. Rulag gehört auch dazu.«
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