»Machen sie's dir denn wirklich so schwer?«
»Immer schwerer«, antwortete sie und sah unwillkürlich rasch zur Tür, als wolle sie sich vergewissern, daß Shevek nicht dort stand und sie hörte. »Einige sind einfach unglaublich. Na ja, du weißt schon. Hat keinen Zweck, sich darüber aufzuregen.«
»Nein, deswegen bin ich ja froh, dich allein angetroffen zu haben. Ich weiß wirklich nicht. Ich, und Shev, und Skovan, und Gezach, wir alle, die wir die meiste Zeit in der Druckerei oder im Funkturm verbringen, haben keine Arbeitsaufträge, deswegen kommen wir außerhalb unseres Initiativsyndikats kaum je mit Menschen zusammen. Ich selbst bin natürlich viel in der PDK, aber das ist was anderes, da bin ich auf Opposition eingestellt, weil ich sie bewußt hervorrufe. Aber was haben sie denn gegen dich?«
»Haß«, antwortete Takver mit ihrer dunklen, weichen Stimme. »Tiefen Haß. Der Direktor meines Projekts spricht nicht mehr mit mir. Nun gut, das ist kein großer Verlust; der ist sowieso ein Stockfisch. Aber andere sagen mir offen, was sie denken… Da ist zum Beispiel eine Frau, nicht bei uns im Fischlabor, sondern hier im Wohnheim. Ich gehöre zum Hygieneausschuß dieses Blocks und mußte sie aufsuchen, um etwas mit ihr zu besprechen. Sie ließ mich nicht mal ausreden. ›Wage es nicht, dieses Zimmer zu betreten, ich kenne euch, ihr verdammten Verräter, ihr Intellektuellen, ihr Egoisieren, und so weiter und so fort, und dann knallte sie mir die Tür vor der Nase zu. Es war grotesk.« Takver lachte ein wenig bedrückt. Pilun, die sie lachen sah, lächelte, schmiegte sich fester in Bedaps Arm und gähnte ausgiebig. »Aber weißt du, es war wirklich beängstigend. Ich bin ein Feigling, Dap. Ich mag keine Gewalttätigkeit. Ich mag nicht mal Mißbilligung!«
»Natürlich nicht. Die einzige Sicherheit, die wir haben, ist die Billigung unserer Nachbarn. Ein Archist kann Gesetze brechen und hoffen, daß er ungestraft davonkommt, eine Gewohnheit aber kann man nicht ›brechen‹; sie ist der Rahmen, innerhalb dessen man mit anderen Menschen zusammenlebt… Wir beginnen erst zu spüren, was es heißt, Revolutionäre zu sein, wie Shev es heute bei der Versammlung ausgedrückt hat. Und bequem ist das auf keinen Fall.«
»Manche Menschen haben Verständnis«, berichtete Takver mit energischem Optimismus. »Eine Frau im Omnibus gestern, zum Beispiel, ich weiß nicht, woher ich sie kenne, vermutlich von der Zehnttagarbeit; die sagte zu mir: ›Es muß wunderbar sein, mit einem großen Wissenschaftler zusammen zu leben, es ist doch sicher sehr interessant! Und ich antwortete, ja, man habe wenigstens immer genügend Gesprächsstoff… Pilun, nicht einschlafen, Kleines ! Shevek kommt bestimmt bald nach Hause, und dann gehen wir zum Essen. Schaukel sie ein bißchen, Dap. Ja, also, du siehst, sie wußte, wer Shev ist, aber sie haßte ihn nicht und mißbilligte ihn nicht, sondern war wirklich nett.«
»Ja, die Menschen wissen, wer er ist«, bestätigte Bedap. »Und das ist eigentlich doch komisch, denn die verstehen seine Bücher doch ebensowenig wie ich. Er glaubt, daß ihn ein paar Hundert verstehen. Diese Studenten in dem Bezirksinstituten, die Simultaneitätskurse organisieren, zum Beispiel. Ich selbst würde höchstens auf ein paar Dutzend tippen. Und trotzdem kennen die Leute ihn, haben das Gefühl, daß sie auf ihn stolz sein können. So viel hat das Syndikat wenigstens erreicht. Es hat Shevs Bücher gedruckt. Vielleicht war dies wirklich das einzig Vernünftige, was wir erreicht haben.«
»Aber hör mal! Die PDK-Sitzung heute muß aber schon sehr deprimierend gewesen sein.«
»War sie. Ich würde dich ja gern aufmuntern, Takver, aber ich kann es nicht. Das Syndikat rüttelt zu stark an der Basis der sozialen Bindung, der Angst vor allen Fremden. Ein junger Bursche dort hat heute tatsächlich mit gewaltsamen Gegenmaßnahmen gedroht. Nun gut, es war kein akzeptabler Vorschlag, aber er wird Gleichgesinnte finden, die sie an seiner Stelle ergreifen. Und dann diese Rulag — verdammt noch mal, die ist eine Gegnerin, vor der wir uns hüten müssen!«
»Weißt du eigentlich, wer sie ist, Dap?«
»Nein. Wer denn?«
»Hat Shev es dir nicht gesagt? Na ja, er spricht nicht gern über sie. Sie ist seine Mutter.«
»Shevs Mutter?«
Takver nickte. »Sie verließ ihn, als er zwei Jahre alt war. Der Vater blieb bei ihm. Das ist natürlich nichts Ungewöhnliches. Nur Shevs Gefühle sind ungewöhnlich. Er hat das Gefühl, etwas Wesentliches verloren zu haben — er und der Vater. Er will kein allgemeines Prinzip daraus ableiten, daß Eltern immer die Kinder bei sich behalten müßten oder so. Aber die Bedeutung, die er der Loyalität beimißt, die geht, glaube ich, darauf zurück.«
»Nein, was ungewöhnlich ist, wirklich ungewöhnlich«, entgegnete Bedap voller Eifer, ohne zu merken, daß Pilun auf seinem Schoß eingeschlafen war, »das sind ihre Gefühle ihm gegenüber! Sie hat geradezu darauf gelauert, daß er zu einer Import-Export-Versammlung kam, das konnte man heute ganz deutlich erkennen. Sie weiß, daß er die Seele unserer Gruppe ist, und haßt uns seinetwegen. Warum? Aus Schuldbewußtsein? Ist die Odonische Gesellschaft schon so verkommen, daß wir uns von Schuldbewußtsein motivieren lassen?… Weißt du, jetzt, da ich das weiß, finde ich, daß sie sich ähnlich sehen. Nur bei ihr ist alles hart geworden — steinhart, tot.«
Während er sprach, öffnete sich die Tür, und Shevek kam mit Sadik herein. Sadik war zehn Jahre alt, groß für ihr Alter und sehr dünn, säe bestand fast nur aus Beinen, war zart, zerbrechlich, mit einer dichten Wolke dunklem Haar. Shevek folgte ihr, und Bedap betrachtete ihn neugierig im für ihn neuen Licht seiner Verwandtschaft mit Rulag, sah ihn, wie man wohl gelegentlich einen sehr alten Freund sieht, mit einer Klarheit, zu der die gesamte Vergangenheit beiträgt: das schöne, stille Gesicht, voll Leben, aber abgespannt, müde bis auf die Knochen. Es war ein sehr individuelles Gesicht, und dennoch glichen seine Züge nicht nur denen der Mutter, sondern auch denjenigen vieler anderer Anarresti, ein Volk von Auserwählten, auserwählt durch die Vision der Freiheit, und angepaßt an eine unfruchtbare Welt, eine Welt der Distanz, des Schweigens, der Trostlosigkeit.
Im Zimmer entstand mittlerweile beträchtliche Enge, viel Bewegung, viel Gemeinschaft: Begrüßungen, Lachen, Pilun wurde herumgereicht, um, sehr gegen ihren Willen, schläfrig wie sie war, geherzt und geküßt zu werden, die Flasche wurde herumgereicht, damit sich jeder einschenken konnte, Fragen, Gespräche. Zunächst bildete Sadik den Mittelpunkt, weil sie am seltensten mit der Familie zusammen war, dann Shevek. »Was wollte der alte Fettsteiß von dir?«
»Du warst im Institut?« erkundigte sich Takver, die ihn aufmerksam musterte, als er sich neben ihr niederließ.
»Nur kurz vorbeigegangen. Sabul hatte mir heute morgen eine Nachricht zum Syndikat geschickt.« Shevek trank seinen Obstsaft, und als er die Tasse wieder absetzte, lag ein sehr merkwürdiger Zug um seinen Mund, eine Art Un-Ausdruck. »Er sagte mir, die Physikerföderative habe einen Ganzzeitposten frei. Selbständige Arbeit, zeitlich unbegrenzt.«
»Für dich? Dort? Im Institut?«
Er nickte.
»Das hat Sabul dir gesagt?«
»Er versucht, dich auf seine Seite zu ziehen«, meinte Bedap.
»Das glaube ich auch. Was man nicht mit der Wurzel ausrotten kann, soll man domestizieren, wie wir in Northsetting zu sagen pflegten.« Plötzlich lachte Shevek auf. »Findet ihr nicht, daß das komisch ist?«
»Nein«, antwortete Takver, »das finde ich ganz und gar nicht komisch. Es ist abscheulich. Wie konntest du es nur fertigbringen, auch nur ein einziges Wort mit ihm zu sprechen? Nach all den Verleumdungen, die er über dich verbreitet hat, und all den Lügen, du hättest ihm die Grundregeln gestohlen, und daß er dir nichts davon gesagt hat, als die Urrasti dir diesen Preis gegeben haben, und dann, letztes Jahr, als er diese Studenten, die die Vorlesung organisiert hatten, einfach auseinanderjagte und wegschickte, weil du angeblich einen ›krypto-autoritären Einfluß‹ auf sie ausübtest du und autoritär! —, verdammt noch mal, das war einfach gemein, unverzeihlich! Wie kannst du so einem Menschen gegenüber höflich sein?«
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