Doch was wurde aus dem Kot? Darüber dachte er lange nach, während er nach gründlicher Untersuchung der Mechanismen neben dem Nachtstuhl kniete. Wahrscheinlich filterten sie das Wasser in einer Düngemittelfabrik heraus. Auf Anarres wurde dieses Rückgewinnungssystem von mehreren Küstenkommunen angewandt. Er nahm sich vor, danach zu fragen, kam aber einfach nicht dazu. Es gab auf Urras eine Menge Fragen, die er schließlich doch nicht stellte.
Trotz seines Schnupfens fühlte er sich ausgezeichnet und tatendurstig. In den Zimmern war es so warm, daß er das Ankleiden vorerst hinausschob und splitternackt umherwanderte. Er trat an die Fenster des großen Raums und blickte hinaus. Das Zimmer lag hoch; zuerst erschrak er darüber und wich unwillkürlich zurück, denn er war nur an einstöckige Gebäude gewöhnt. Hier war es, als schaue man aus einem Luftschiff hinab; man fühlte sich losgelöst von der Erde, über den Dingen stehend, unbeteiligt. Die Fenster blickten über ein Wäldchen hinweg zu einem weißen Gebäude mit einem grazilen, eckigen Turm hinüber. Hinter dem Gebäude fiel das Gelände ab bis in ein weites Tal. Überall war der Boden kultiviert, denn die zahllosen grünen Flecken, die man sah, waren rechteckig. Sogar dort, wo das Grün sich in der blauen Ferne verlor, waren noch die dunklen Linien von Feldwegen, Hecken und Bäumen auszumachen, ein Netz, so fein wie das Nervensystem eines menschlichen Körpers. Dann endlich wurde das Tal von Bergketten begrenzt, blau, tief gestaffelt, weich und dunkel unter dem gleichmäßigen Hellgrau des Himmels.
Es war der schönste Anblick, den Shevek jemals gesehen hatte. Die Sanftheit und Vitalität der Farben, die Mischung aus linearem Menschenwerk und kraftvollen, üppigen natürlichen Konturen, die Vielfalt und Harmonie der Elemente — das alles vermittelte den Eindruck einer komplexen Ganzheit, wie er sie noch niemals gesehen hatte, es sei denn, vielleicht, in kleinerem Maßstab bei gewissen ruhigen und nachdenklichen Menschengesichtern.
Im Vergleich dazu waren die Panoramen, die Anarres bot, sogar die Ebene von Abbenay und die Schluchten der Ne Theras, dürftig: unfruchtbar, trocken, rudimentär. Die Wüsten von Südwest besaßen zwar eine wilde weiträumige Schönheit, doch die war feindselig und zeitlos. Selbst dort, wo der Boden von Anarres am stärksten von Menschen kultiviert wurde, glich die Landschaft, die sie schufen, einer groben Skizze in gelber Kreide, wollte man sie mit dieser erfüllten Großartigkeit des Lebens vergleichen, so reich an Geschichte und an Zukunft, wahrhaft unerschöpflich. Ja, so muß eine Welt aussehen, dachte Shevek. Und irgendwo da draußen, in dieser blauen und grünen Pracht, sang etwas: eine kleine Stimme, hoch oben, einsetzend, abbrechend, unvorstellbar süß. Was war das? Eine kleine, süße, natürliche Stimme, Musik mitten in der Luft. Mit angehaltenem Atem lauschte er.
Es wurde an die Tür geklopft. Erstaunt wandte er sich, nackt wie er war, vom Fenster ab und sagte: »Herein!«
Ein mit Paketen beladener Mann kam herein. Und blieb gleich an der Tür stehen. Shevek ging auf ihn zu, sagte nach Anarresti-Sitte seinen Namen und reichte ihm nach Urrasti-Sitte die Hand.
Der Mann, ungefähr fünfzig, mit einem zerfurchten, alten Gesicht, sagte etwas, wovon Shevek kein Wort verstand, und weigerte sich, seine Hand zu ergreifen. Vielleicht hinderten ihn die Pakete daran, aber er machte auch keine Anstalten, sie umzuladen und eine Hand freizumachen. Seine Miene war tiefernst. Möglicherweise war er verlegen.
Shevek, der überzeugt war, wenigstens die Begrüßungssitten der Urrasti zu beherrschen, war bestürzt. »Treten Sie ein«, wiederholte er irritiert und fügte dann, da die Urrasti dauernd mit Titeln und Ehrenbezeichnungen um sich warfen, hinzu: »Sir.«
Der Mann ließ einen weiteren unverständlichen Redeschwall vom Stapel und schob sich dabei auf die Schlafzimmertür zu. Diesmal hatte Shevek einige iotische Wörter verstanden, das übrige aber blieb ihm auch jetzt ein Rätsel. Da der Mann eindeutig zum Schlafzimmer strebte, hinderte er ihn nicht. Möglicherweise war er ein Mitbewohner. Aber es gab doch nur ein Bett! Shevek gab auf und kehrte ans Fenster zurück, während der Mann ins Schlafzimmer ging und ein paar Minuten lang darin herumhantierte. Gerade als Shevek zu dem Schluß kam, es müsse sich um einen Nachtarbeiter handeln, der tagsüber das Schlafzimmer benutzte, ein Arrangement, das zuweilen in vorübergehend überfüllten Wohnheimen getroffen wurde, kam er wieder heraus. Er sagte etwas — möglicherweise: »So, das war's, Sir« und duckte den Kopf auf eine ganz merkwürdige Art, als fürchte er, Shevek, der gute fünf Meter von ihm entfernt stand, werde ihn ins Gesicht schlagen. Dann ging er. Shevek, immer noch am Fenster, begriff plötzlich, daß zum erstenmal in seinem Leben sich jemand vor ihm verbeugt hatte.
Als er ins Schlafzimmer ging, entdeckte er, daß sein Bett gemacht worden war.
Langsam, nachdenklich, kleidete er sich an. Gerade schlüpfte er in die Schuhe, als es zum zweitenmal an die Tür klopfte.
Diese Gruppe kam in einer ganz anderen Haltung herein; in einer normalen Haltung, fand Shevek, so als stehe es ihnen zu, hier, oder wo immer sonst sie es wünschten, zu sein. Der Mann mit den Paketen war zögernd hereingekommen, hatte sich fast hereingedrückt. Und doch hatten sein Gesicht, seine Hände und seine Kleidung eher der Vorstellung entsprochen, die Shevek sich von der Erscheinung eines normalen Menschen machte, als diejenigen seiner neuen Gäste. Der scheue Mann hatte sich sonderbar verhalten, aber wie ein Anarresti ausgesehen. Diese vier verhielten sich wie Anarresti, wirkten mit ihren glattrasierten Gesichtern und den prunkvollen Kleidern jedoch wie Angehörige einer fremden Spezies.
In dem einen erkannte Shevek Pae wieder, in den anderen die Männer, die ihn am vergangenen Abend ständig begleitet hatten. Er erklärte ihnen, daß er ihre Namen nicht behalten hatte, und sie stellten sich lächelnd abermals vor: Dr. Chifoilisk, Dr. Oiie und Dr. Atro.
»Ach ja, natürlich!« antwortete Shevek. »Atro! Ich freue mich, Sie kennenzulernen.« Er legte dem Alten beide Hände auf die Schultern und drückte ihm einen Kuß auf die Wange. Dann erst fiel ihm siedend heiß ein, daß diese brüderliche Begrüßung, auf Anarres allgemein gebräuchlich, hier vielleicht als unangenehm empfunden wurde.
Atro jedoch umarmte ihn ebenfalls herzlich und blickte mit trüben grauen Augen zu ihm empor. Shevek sah, daß er fast blind sein mußte. »Mein lieber Shevek«, sagte Atro. »Herzlich willkommen in A-Io herzlich willkommen auf Urras — herzlich willkommen zu Hause!«
»Seit so vielen Jahren schreiben wir uns Briefe, zerstören wir einer des anderen Theorien!«
»Sie waren aber stets besser im Zerstören. Augenblick mal, ich habe was für Sie.« Der Alte tastete seine Taschen ab. Unter dem Universitätstalar aus Samt trug er eine Jacke, darunter eine Weste, darunter ein Hemd und darunter wahrscheinlich noch eine Schicht Kleidungsstücke. Und in allen, auch in seiner Hose, gab es die verschiedensten Taschen. Fasziniert beobachtete Shevek, wie Atro in sechs oder sieben Taschen wühlte, die alles mögliche enthielten, bis er einen kleinen, auf ein Stück poliertes Holz montierten, gelben Würfel zum Vorschein brachte, »Da«, sagte er, »Ihr Preis. Der Seo-Oen-Preis. Das Bargeld ist auf Ihrem Konto. Da. Neun Jahre zu spät, aber lieber spät als nie.« Mit zitternden Händen reichte er ihn Shevek.
Das Ding war schwer; der gelbe Würfel bestand aus massivem Gold. Reglos stand Shevek da, hielt ihn in der Hand.
»Ihr jungen Leute könnt machen, was ihr wollt«, fuhr Atro fort, »aber ich werde mich jetzt hinsetzen.« Sie nahmen alle in tiefen weichen Sesseln Platz, die Shevek bereits untersucht hatte. Sie waren mit einem seltsamen braunen Material bezogen, das nicht gewebt war, sondern sich eher wie Haut anfühlte. »Wie alt waren Sie vor neun Jahren, Shevek?«
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