Unter Sternfliegern herrschte die Meinung, im Kosmos gäbe es so etwas wie neutrale Felder oder Nullgebiete, in denen alle Strahlungen und Sendungen wie Steine im Wasser versanken. Die Astrophysiker hingegen hielten Nullfelder bislang für eine reine Erfindung von Kosmosreisenden, die im Allgemeinen zu überreizter Fantasie neigten.
Nach der Trauerfeier und einer kurzen Besprechung schaltete Erg Noor die Anamesontriebwerke ein. Achtundvierzig Stunden später verstummten diese wiederum, und das Sternenschiff strebte dem heimatlichen Planeten zu mit einer Geschwindigkeit von einundzwanzig Milliarden Kilometer pro Tag. Bis zur Sonne waren es ungefähr sechs Erden- oder unabhängige Jahre. In der Steuerzentrale und der kombinierten Bibliotheks- und Laborkabine wurde auf Hochtouren an der Berechnung und Festlegung des neuen Kurses gearbeitet.
Während des sechsjährigen Fluges durfte Anameson nur für die Korrektur des Schiffskurses verbraucht werden. Mit anderen Worten, das Sternenschiff musste so gelenkt werden, dass es möglichst wenig für Beschleunigungsmanöver verlor. Alle waren besorgt über das unerforschte Gebiet 344+2U, das zwischen der Sonne und der Tantra lag und dessen Umgehung praktisch unmöglich war, denn zu beiden Seiten des Gebietes verliefen gefährliche Meteoritenschwärme, und außerdem würde das Schiff beim Wenden an Geschwindigkeit verlieren.
Nach zwei Monaten war die Berechnung der Fluglinie abgeschlossen, und die Tantra begann eine lange, flache Kurve gleicher Krümmung zu beschreiben.
Das wunderbare Schiff befand sich in ausgezeichnetem Zustand, die Fluggeschwindigkeit hielt sich in den errechneten Grenzen. Nun trennte nur noch die Zeit — ungefähr vier abhängige Flugjahre — das Sternenschiff von seiner Heimat.
Erg Noor und Nisa hatten ihren Dienst beendet und sanken todmüde in einen langen Schlaf. Gemeinsam mit ihnen zogen sich zwei Astronomen, die Geologin, der Biologe, die Ärztin und die vier Ingenieure in das vorübergehende Nichtsein zurück. Die folgende Schicht übernahmen der erfahrene Astronavigator Pel Lin, der bereits zum zweiten Mal an einer Expedition teilnahm, die Astronomin Ingrid Ditra und der Elektroingenieur Kay Ber, der sich den beiden freiwillig angeschlossen hatte. Ingrid zog sich mit Pel Lins Erlaubnis oft in die Bibliothek neben der Steuerzentrale zurück. Sie und ihr langjähriger Freund Kay Ber schrieben, vom tragischen Schicksal der Sirda inspiriert, eine monumentale Symphonie mit dem Namen „Der Untergang eines Planeten“. Wann immer Pel Lin vom Summen der Geräte und vom Beobachten der schwarzen Leere des Kosmos ermüdete, ließ er Ingrid ans Pult und machte sich selbst mit Begeisterung an die Dechiffrierung geheimnisvoller Inschriften. Diese stammten von einem Planeten im System der nächsten Sterne des Centaurus, der von seinen Bewohnern auf rätselhafte Art und Weise verlassen worden war. Pel Lin war vom Erfolg dieses aussichtslosen Unterfangens fest überzeugt.
Noch zweimal wechselte die Schicht, das Sternenschiff hatte sich der Erde um fast zehn Billionen Kilometer genähert, obgleich die Anamesontriebwerke nur für ein paar Stunden eingeschaltet worden waren.
Die Schicht Pel Lins Teams, die vierte, seit die Tantra den Ort des gescheiterten Zusammentreffens mit der Algrab verlassen hatte, näherte sich ihrem Ende.
Ingrid Ditra, die Astronomin, hatte ihre Berechnungen abgeschlossen und wandte sich zu Pel Lin um, der melancholisch das unaufhörliche Zittern der roten Zeiger auf den hellblauen Skalen der Gravitationsmessgeräte verfolgte. Die unvermeidliche Verlangsamung der psychischen Reaktionen, die selbst bei den kräftigsten Naturen nicht ausblieb, machte sich vor allem in der zweiten Hälfte des Dienstes bemerkbar. Das Sternenschiff flog monate- und jahrelang automatisch gesteuert auf dem vorgegebenen Kurs dahin. Wenn dann plötzlich etwas Außergewöhnliches geschah, mit dem die automatische Steuerungsanlage des Schiffes nicht fertigwurde, so bedeutete dies gemeinhin den Untergang des Schiffes. Jeder Eingriff von Menschenhand kam dann meist zu spät, da selbst das besttrainierte menschliche Gehirn nicht imstande war, mit der notwendigen Geschwindigkeit zu reagieren.
„Meiner Ansicht nach sind wir längst in das unerforschte Gebiet 344+2U eingedrungen“, wandte sich Ingrid an den Astronavigator. „Der Expeditionsleiter wollte hier doch wieder selbst Dienst tun.“
Pel Lin warf einen Blick auf den Tageszähler.
„Noch zwei Tage, dann ist ohnehin Schichtwechsel. Bis jetzt ist nichts in Sicht, was besondere Aufmerksamkeit verdiente. Führen wir den Dienst zu Ende?“
Ingrid nickte zustimmend. Kay Ber kam aus dem Heck des Schiffes und nahm wie üblich seinen Platz am Pult mit den Stabilisierungsgeräten ein. Pel Lin gähnte und stand auf.
„Ich werde ein paar Stunden schlafen“, sagte er zu Ingrid. Sie erhob sich von ihrem Tisch und ging folgsam zum Steuerpult vor.
Die Tantra flog ohne zu schaukeln in der vollkommenen Leere dahin. Die überempfindlichen Woll-Hod-Geräte registrierten selbst auf weiteste Entfernungen keinen einzigen Meteoriten. Der Kurs des Sternenschiffes verlief nun etwas seitlich von der Sonne — etwa anderthalb Flugjahre. Die Schirme der vorderen Beobachtungsmonitore waren von einer erstaunlichen Schwärze, das Sternenschiff schien in die tiefsten Tiefen der kosmischen Dunkelheit einzutauchen. Nur von den seitlichen Teleskopen spiegelten sich nach wie vor die unzähligen Sternlichter wie Feuernadeln auf den Schirmen wider.
Ingrid wurde von einem seltsamen Gefühl der Unruhe erfasst. Sie kehrte zu ihren Geräten und Teleskopen zurück, kontrollierte fortwährend die Werte und kartierte das unbekannte Gebiet. Alles war ruhig, dennoch konnte Ingrid ihren Blick nicht von der Unheil verkündenden Dunkelheit vor dem Schiff losreißen. Kay Ber hatte ihre Anspannung bemerkt und lauschte und beobachtete lange Zeit die Geräte. „Ich kann nichts entdecken“, bemerkte er schließlich. „Bildest du dir nicht etwas ein?“
„Ich weiß selbst nicht warum, aber diese merkwürdige Finsternis vor uns macht mir Sorgen. Ich habe das Gefühl, unser Schiff fliegt geradewegs in einen Dunkelnebel hinein.“
„Ja, es muss hier eine Dunkelwolke geben“, bestätigte Kay Ber. „Aber wir werden sie nur am Rand streifen. So ist es vorausberechnet. Die Stärke des Gravitationsfeldes wächst gleichmäßig und langsam an. Auf dem Flug durch dieses Gebiet werden wir auf jeden Fall auf ein Gravitationszentrum stoßen. Ist es nicht einerlei, ob auf ein dunkles oder ein helles?“
„Das stimmt“, sagte Ingrid etwas ruhiger.
„Worüber machst du dir dann Sorgen? Wir kommen sogar schneller als geplant auf dem vorgegebenen Kurs voran. Wenn alles glatt läuft, erreichen wir den Triton trotz unserer Brennstoffknappheit.“
Bei dem bloßen Gedanken an den Triton fühlte Ingrid Freude in sich aufsteigen. Auf diesem Satelliten des Neptuns am äußersten Rande des Sonnensystems war eine Sternenschiffstation errichtet. Den Triton zu erreichen, das bedeutete, nach Hause zurückkehren zu können…
„Ich hatte gehofft, wir beide könnten an der Symphonie weiterarbeiten, aber nun hat sich Lin niedergelegt“, fuhr Kay fort. „Ich schätze, er wird sechs bis sieben Stunden schlafen. Inzwischen werde ich allein über die Instrumentierung des Finales im zweiten Satz entwerfen — du weißt schon, die Stelle, wo uns der integrale Einsatz der Gefahr einfach nicht gelingen will. Diese Stelle…“ Kay sang einige Takte vor.
„Di-i, di-i, da-ra-ra“, schien es plötzlich von den Wänden der Steuerzentrale widerzuhallen.
Ingrid fuhr zusammen und blickte sich um, aber im nächsten Augenblick hatte sie begriffen. Die Stärke des Gravitationsfeldes war angewachsen, und die Geräte reagierten darauf mit einem veränderten Summton des künstlichen Gravitationsapparates. „Ein merkwürdiges Zusammentreffen!“, sagte sie und lachte leicht schuldbewusst.
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