Mwen Maas ließ sich in den Sessel fallen, der ihm untergeschoben worden war, und versuchte seine Gedanken und seine Kraft zu sammeln. Da stürzte der Leiter des Observatoriums ins Zimmer.
„Wir haben eben die Stellung des Satelliten 57 fixiert. Er ist nicht mehr da!“
Mwen Maas sprang auf, als hätte er keinerlei Verletzungen davongetragen.
„Der vordere Teil, der Sternenschiffträger, ist übrig geblieben“, lautete die Hiobsbotschaft weiter. „Er fliegt auf derselben Umlaufbahn. Wahrscheinlich gibt es noch kleinere Bruchstücke, die wir jedoch noch nicht geortet haben.“
„Das heißt, die Beobachter…?“
„Sind zweifellos umgekommen!“
Mwen Maas presste seine Fäuste gegen die unerträglich schmerzenden Schläfen. Einige Minuten qualvollen Schweigens vergingen. Dann erstrahlte der Bildschirm von Neuem.
„Grom Orm ist im Haus der Räte am Apparat“, sagte der Diensthabende und betätigte einen Hebel.
Auf dem Bildschirm erschien in dem großen, matt beleuchteten Saal der allen bekannte charakteristische Kopf des Vorsitzenden des Rates für Sternenschifffahrt — das schmale, fast stromlinienförmige Gesicht mit der großen Adlernase, die tief liegenden Augen unter skeptisch hochgezogenen Brauen, der energische Zug um die fest zusammengepressten Lippen.
Mwen Maas senkte unter dem Blick des Ratsvorsitzenden unwillkürlich den Kopf wie ein ungezogener Junge.
„Soeben ist der Satellit 57 zerstört worden!“ Der Afrikaner stürzte sich in sein Bekenntnis wie in dunkles Wasser.
Grom Orm zuckte zusammen, und sein Gesicht wurde noch kantiger.
„Wie konnte das geschehen?“
Mwen Maas erzählte in knappen und präzisen Worten alles, ohne die Illegalität des Experiments zu verheimlichen oder sich zu schonen. Die Brauen des Ratsvorsitzenden zogen sich zusammen, um seinen Mund ringelten sich tiefe Falten, doch sein Blick blieb ruhig.
„Warten Sie, ich kümmere mich um Hilfe für Ren Boos. Glauben Sie, Af Nut könnte…“
„Oh, wenn Af Nut kommen könnte!“
Der Bildschirm wurde wieder dunkel. Das Warten wurde unerträglich. Mwen Maas nahm seine letzten Kräfte zusammen. Nein, bald würde… und da war Grom Orm schon wieder!
„Ich habe Af Nut aufgespürt und ihm ein Planetenschiff geschickt. Er braucht wenigstens eine Stunde, um die Apparaturen und seine Assistenten zusammenzubekommen. In zwei Stunden ist Af Nut im Observatorium. Jetzt zu Ihnen — ist das Experiment gelungen?“
Die Frage kam für den Afrikaner überraschend. Er hatte den Epsilon Tucanae zweifellos gesehen. Aber war dies ein echter Kontakt mit der unerreichbar fernen Welt gewesen? Oder hatten die mörderische Wirkung des Experiments auf seinen Organismus und der brennende Wunsch, den Stern zu sehen, in ihm eine wirklichkeitsnahe Halluzination hervorgerufen? Konnte er der gesamten Welt mitteilen, dass das Experiment gelungen sei, dass neue Anstrengungen, Opfer und Mittel für eine Wiederholung notwendig seien, dass die von Ren Boos angewandte Methode zielführender sei als die seiner Vorgänger? Im Vertrauen auf die Gedächtnismaschinen hatten sie, wie Verrückte, das Experiment lediglich zu zweit ausgeführt! Und was hatte Ren gesehen, was würde er berichten können? Ja, wenn er überhaupt wieder sprechen würde… wenn er überhaupt etwas gesehen hatte…
Mwen Maas richtete sich noch gerader auf.
„Beweise, dass das Experiment geglückt ist, besitze ich keine. Was Ren Boos beobachtet hat, weiß ich nicht…“
Auf Grom Orms Gesicht spiegelte sich unverhohlenes Bedauern wider. War es eine Minute zuvor noch aufmerksam gewesen, so nahm es jetzt einen strengen Ausdruck an.
„Was schlagen Sie vor?“
„Ich bitte um die Erlaubnis, die Station unverzüglich an Junius Antus übergeben zu dürfen. Ich bin nicht würdig, sie noch länger zu leiten. Dann… werde ich bis zum Schluss bei Ren Boos bleiben…“ Der Afrikaner stockte und berichtigte sich dann. „… bis zum Schluss der Operation. Danach… danach werde ich mich bis zum Gerichtsverfahren auf die Insel des Vergessens zurückziehen… Ich habe bereits selbst das Urteil über mich gefällt.“
„Vielleicht haben Sie recht. Aber mir sind noch viele Umstände unklar, und ich enthalte mich deshalb eines Urteils. Ihr Vorgehen wird auf der nächsten Sitzung des Rates untersucht werden. Wen halten Sie für am geeignetsten, Sie zu vertreten — vor allem, was den Wiederaufbau des Satelliten betrifft?“
„Ich kenne keinen besseren Kandidaten als Dar Weter!“
Der Vorsitzende des Rates nickte zustimmend. Er sah den Afrikaner noch einige Zeit an, als wolle er noch etwas hinzufügen, machte dann aber nur eine Abschiedsgeste. Der Bildschirm erlosch — und gerade rechtzeitig, denn plötzlich wurde Mwen Maas vor den Augen schwarz.
„Bitte benachrichtigen Sie Ewda Nal für mich“, flüsterte er dem neben ihm stehenden Leiter des Observatoriums zu, fiel zu Boden und verlor nach einigen vergeblichen Versuchen, sich wieder aufzurichten, schließlich das Bewusstsein.
Im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit im tibetischen Observatorium stand ein kleiner, gelbhäutiger Mann mit einem fröhlichen Lächeln und ungewöhnlich gebieterischen Gesten und Worten. Die Assistenten, die mit ihm angekommen waren, fügten sich mit einer solch freudigen Bereitwilligkeit, wie wahrscheinlich nur die treuen Soldaten den großen Heerführern der Antike gefolgt waren. Doch die Autorität des Lehrers unterdrückte keinesfalls ihr selbstständiges Denken und ihren Unternehmungsgeist. Es war eine hervorragend aufeinander eingespielte Gruppe von starken Leuten, die würdig waren, den Kampf gegen den schlimmsten und unversöhnlichsten Feind des Menschen, den Tod, aufzunehmen.
Als Af Nut erfuhr, dass Ren Boos’ Abstammungskarte noch nicht eingetroffen sei, brach er in einen Ruf der Empörung aus, beruhigte sich jedoch ebenso schnell, als ihm mitgeteilt wurde, dass die Karte von Ewda Nal zusammengestellt und von ihr persönlich gebracht würde.
Der Leiter des Observatoriums fragte vorsichtig, wofür die Karte denn notwendig sei und was Ren Boos seine fernen Vorfahren noch nützen könnten. Af Nut kniff verschmitzt die Augen zusammen, so als wolle er ein großes Geheimnis preisgeben.
„Die genaue Kenntnis der Erbstruktur jedes Menschen ist notwendig für das Verständnis seiner psychischen Konstitution und für Vorhersagen in diesem Bereich. Nicht weniger wichtig sind Daten über neurophysiologische Eigenheiten, die Widerstandskraft des Organismus, die Immunologie, die Anfälligkeit für Traumata sowie Allergien gegenüber Medikamenten. Ohne eine genaue Kenntnis von der Erbstruktur und der Bedingungen, unter denen die Vorfahren lebten, ist es unmöglich, die richtige Behandlungsmethode zu wählen.“
Der Leiter des Observatoriums wollte noch etwas fragen, aber Af Nut schnitt ihm das Wort ab:
„Meine Antwort soll Ihnen als Grundlage für selbstständige Überlegungen dienen. Für mehr ist jetzt keine Zeit!“
Der Astronom murmelte entschuldigende Worte, die der Chirurg jedoch nicht mehr hörte.
Auf einem kleinen Platz am Fuße des Berges entstand ein transportables Operationsgebäude, wurden Wasser, Strom und Pressluft angeschlossen. Eine Unzahl Freiwilliger bot ihre Dienste an, und das Gebäude wurde innerhalb von drei Stunden fertiggestellt. Af Nuts Assistenten wählten unter den Ärzten, die am Bau der Anlage mitgeholfen hatten, fünfzehn Mann für den Dienst in der so rasch errichteten chirurgischen Klinik aus. Ren Boos wurde unter eine durchsichtige Plastikhaube gelegt, die zur Gänze sterilisiert und durch Spezialfilter mit steriler Luft vollgeblasen worden war. Af Nut und vier seiner Assistenten betraten den Vorraum des Operationssaales, wo sie einige Stunden verharrten, in denen sie mit bakteriziden Wellen und durch mit antiseptischem Gas angereicherte Luft behandelt wurden, bis selbst ihr Atem steril war. Währenddessen wurde Ren Boos’ Körper stark tiefgekühlt. Dann begann man mit der raschen und sicheren Arbeit.
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