Im ersten Klassenzimmer entdeckten sie einen mit blauer Kreide über eine ganze Wand gezeichneten Vektor, der von einer sich der Länge nach entfaltenden Spirale umgeben war. Zwei Spiralabschnitte waren von querlaufenden Ellipsen umgeben, in die ein rechtwinkliges Koordinatensystem eingezeichnet war.
„Bipolare Mathematik!“, rief Weda mit gespieltem Entsetzen.
„Hier geht es noch um etwas Höheres“, entgegnete Ewda. „Warten wir einen Augenblick.“
„Nachdem wir die Schattenfunktionen der Kochlearrechnung, das heißt, die spiralenförmige progressive Bewegung, die entlang des Vektors entsteht, kennengelernt haben, kommen wir jetzt zu dem Begriff der ›Repagularrechnung‹“, erklärte ein älterer Lehrer mit tief liegenden, leuchtenden Augen. „Der Name der Rechnung leitet sich von einem alten lateinischen Wort ab, das so viel wie ›Schranke‹ oder ›Barriere‹ bedeutet, genauer gesagt, den Übergang von einer Eigenschaft in eine andere, unter einem doppelten Aspekt betrachtet.“ Der Lehrer zeigte auf die große Ellipse, die quer durch die Spirale verlief. „Mit anderen Worten, die mathematische Analyse ineinander übergehender Erscheinungen.“
Weda Kong verschwand hinter einem Vorsprung und zog die Freundin neben sich.
„Das ist etwas Neues! Es geht um den Bereich, von dem Ihr Ren Boos am Meeresstrand gesprochen hat.“
„Die Schule bringt den Schülern stets die neuesten Erkenntnisse bei und siebt Veraltetes aus. Wie könnten wir einen raschen Fortschritt gewährleisten, wenn sich die neue Generation veraltete Kenntnisse aneignete? Es muss ohnehin unendlich viel Zeit aufgewendet werden, bis sich die Kinder in den Staffellauf des Wissens einordnen. Jahrzehnte vergehen, bis sie zur Gänze ausgebildet und zur Bewältigung gigantischer Aufgaben fähig sind. Dieses Pulsieren der Generationen, wo es stets einen Schritt nach vorn und neun Zehntel zurück geht, bis die Ablösung herangereift und ausgebildet ist, stellt das für den Menschen härteste biologische Gesetz, das Gesetz des Todes und der Wiedergeburt, dar. Vieles von dem, was wir in Mathematik, Physik und Biologie gelernt haben, ist veraltet. Anders ist es bei Ihrer Geschichte; sie veraltet langsamer, da sie selbst sehr alt ist.“
Sie schauten in ein anderes Klassenzimmer. Die mit dem Rücken zu ihnen stehende Lehrerin und die dem Unterricht aufmerksam lauschenden Schüler bemerkten nichts. Hier saßen ältere Jungen und Mädchen von ungefähr siebzehn Jahren. Ihre geröteten Wangen verrieten, wie sehr sie vom Unterricht hingerissen waren.
„Die Menschheit, wir, hat die härtesten Belastungsproben bestanden“, sagte die Lehrerin mit erregter Stimme. „Und dennoch ist es bis heute das Hauptanliegen des Geschichtsunterrichts geblieben, die historischen Fehler der Menschheit und deren Folgen zu studieren. Wir haben das Stadium der unerträglichen Kompliziertheit des Lebens und der Dominanz der Gebrauchsgegenstände überwunden und sind nun bei der größtmöglichen Vereinfachung angelangt. Die Kompliziertheit des Lebens hat zu einer Vereinfachung der geistigen Kultur geführt. Es darf keine überflüssigen Dinge mehr geben, die den Menschen belasten, denn seine Erfahrungswerte und sein Wahrnehmungsvermögen sind bei einem einfachen Leben umso feiner. Alles, was zum alltäglichen Leben gehört, wird von den besten Köpfen genauso ernsthaft durchdacht wie wichtigste wissenschaftliche Fragen. Wir sind dem allgemeinen Entwicklungsweg der Tierwelt gefolgt, der auf die Entlastung der Aufmerksamkeit durch Automatisierung von Bewegungen und durch Herausbildung von Reflexen im Nervensystem des Organismus ausgerichtet war. Die Automatisierung der Produktivkräfte hat ein analoges reflektorisches Steuerungssystem in der Produktion geschaffen und es damit der Mehrheit der Menschen ermöglicht, sich mit dem zu beschäftigen, was nun zum Hauptanliegen der Menschheit geworden ist, mit der wissenschaftlichen Forschung. Wir wurden von der Natur mit einem großartigen, für wissenschaftliche Arbeit geeigneten Gehirn ausgestattet, das anfänglich jedoch nur zur Nahrungssuche und der Erforschung der Essbarkeit diente.“
„Gut!“, flüsterte Ewda Nal und bemerkte im selben Augenblick ihre Tochter.
Das Mädchen blickte nichtsahnend auf die wellige Oberfläche des Fensterglases, das einseitig durchsichtig war und verhinderte, dass die Schüler mitbekamen, was außerhalb der Klasse vor sich ging.
Neugierig verglich Weda Kong das Mädchen mit seiner Mutter. Das gleiche lange schwarze Haar, bei der Tochter nur mit einem hellblauen Band durchflochten und von zwei großen Schleifen zusammengehalten. Das gleiche nach unten spitz zulaufende ovale Gesicht, dem die zu breite Stirn und die unter den Schläfen hervortretenden Backenknochen etwas Kindliches verliehen. Ein schneeweißer Pullover aus Kunstwolle unterstrich die Blässe ihrer Haut und das tiefe Schwarz ihrer Augen, Brauen und Wimpern. Die rote Korallenkette passte ausgezeichnet zu dem originellen Äußeren dieses Mädchens.
Ewdas Tochter trug dieselben weiten und kurzen, über dem Knie endenden Hosen wie alle übrigen Schüler der Klasse, nur mit dem einen Unterschied, dass die Seitennähte ihrer Hosen mit roten Fransen besetzt waren.
„Indianerschmuck“, flüsterte Ewda Nal auf den fragenden Blick der Freundin.
Ewda und Weda zogen sich rasch auf den Korridor zurück, da der Unterricht zu Ende war und die Lehrerin das Klassenzimmer verließ, gefolgt von einigen Schülerinnen, darunter auch Ewdas Tochter. Das Mädchen blieb plötzlich stehen, als es die Mutter — sein ganzer Stolz und ständiges Vorbild — erblickte. Ewda konnte ja nicht ahnen, dass es in der Schule einen Klub ihrer Verehrer gab, die sich für denselben Lebensweg wie den der berühmten Ewda Nal entschieden hatten.
„Mama!“, flüsterte das Mädchen und schmiegte sich, einen schüchternen Blick auf die Begleiterin der Mutter werfend, an Ewda.
Die Lehrerin blieb stehen und kam dann näher heran.
„Ich werde den Schulrat informieren“, sagte sie, ohne auf Ewdas Protest einzugehen. „Wir müssen doch von Ihrem Besuch profitieren.“
„Profitieren Sie lieber von dem Besuch dieser Forscherin“, sagte Ewda und stellte Weda Kong vor.
Die Geschichtslehrerin wurde rot bis an die Haarwurzeln und sah plötzlich sehr jung aus.
„Sehr gut!“, antwortete sie und versuchte den sachlichen Ton beizubehalten. „Die älteren Schülergruppen stehen kurz vor ihrem Abschluss. Eine Abschiedsrede auf den Weg von Ewda Nal, gekoppelt mit einem Überblick über die antiken Kulturen und Völker von Weda Kong — das wäre etwas für unsere Jugend! Habe ich recht, Rea?“
Ewdas Tochter klatschte in die Hände. Die Lehrerin rannte leichten Fußes wie eine Turnerin zu den Lehrerzimmern, die sich in einem langen, geraden Anbau befanden.
„Rea, nimmst du dir frei, und wir gehen im Garten spazieren?“, schlug Ewda ihrer Tochter vor. „Ich werde nicht noch einmal kommen können, bevor du dich für deine Heldentaten entscheidest. Und letztes Mal sind wir zu keiner endgültigen Entscheidung gekommen…“
Ohne etwas zu sagen, fasste Rea ihre Mutter an der Hand. In jedem Schulzyklus wechselten Unterricht und Praktika einander ab. Jetzt fand gerade eine von Reas Lieblingsstunden — das Schleifen optischer Gläser — statt, aber was konnte schon interessanter und wichtiger sein als ein Besuch der Mutter?
Weda ließ Mutter und Tochter allein und ging zu einem in der Ferne sichtbaren kleinen astronomischen Observatorium.
Rea, wie ein Kind an den starken Arm der Mutter geschmiegt, schritt tief in Gedanken versunken neben ihr her.
„Wo ist dein kleiner Kay?“, fragte Ewda, und das Mädchen wurde sichtlich traurig.
Kay war ihr Schützling gewesen. Die älteren Schüler besuchten regelmäßig Schulen des ersten und zweiten Zyklus im näheren Umkreis, halfen dort beim Unterricht und bei der Erziehung der von ihnen gewählten Schützlinge. Diese zusätzliche Hilfe war für die Lehrer unentbehrlich, denn die Erziehung erfordert ein Höchstmaß an Sorgfalt und Zeitaufwand.
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