Erg Noor setzte das Sternenschiff auf dem Landeplatz am Pol des Tritons auf, der in einiger Entfernung von den breiten Kuppeln des Stationsgebäudes lag. Am Rande eines Hochplateaus blinkten in der Nähe eines von unterirdischen Gebäuden durchlöcherten Abhangs die Fenster des Quarantänesanatoriums. Hier, in vollkommener Abgeschiedenheit von allen anderen Menschen, mussten die Reisenden fünf Wochen in Quarantäne verbringen. Während dieser Zeit untersuchten erfahrene Ärzte ihre Körper, um sicherzugehen, dass sich auch ja keine neuen infektiösen Bakterien eingenistet hatten. Die Gefahr war zu groß, als dass man irgendwelche Ausnahmen hätte zulassen können. Jeder, der auf anderen, sogar auf unbewohnten Planeten gelandet war, musste sich dieser Prozedur unterziehen, ganz gleich, wie lange er sich anschließend im Sternenschiff aufgehalten hatte. Auch das Schiffsinnere wurde von den Wissenschaftlern des Sanatoriums untersucht, bevor die Station die Erlaubnis zum Weiterflug zur Erde erteilte. Planeten wie die Venus und der Mars sowie einige Asteroiden, die der Mensch längst erobert hatte, verfügten über eigene Quarantänestationen, in denen die Reisenden vor ihrem Abflug untersucht wurden.
Der Aufenthalt im Sanatorium war leichter zu ertragen als im Sternenschiff. Dort gab es Labore, Konzertsäle, kombinierte Bäder aus Elektrizität, Musik, Wasser und Wellenschwingungen. Die Sternflieger konnten in leichten Raumanzügen Spaziergänge in die Berge und in die Umgebung des Sanatoriums unternehmen. Und schließlich gab es die Verbindung mit dem heimatlichen Planeten, zwar nicht ununterbrochen, aber es war doch tröstlich zu wissen, dass eine Mitteilung die Erde in fünf Stunden erreichte.
Der Silikollsarkophag mit Nisa wurde unter allen nur möglichen Vorsichtsmaßnahmen ins Sanatorium gebracht. Erg Noor und der Biologe Eon Tal verließen als Letzte die Tantra. Sie schritten leichtfüßig aus, trotz der Gewichte, die sie angelegt hatten, um wegen der geringen Schwerkraft auf dem kleinen Planeten nicht unversehens Luftsprünge zu machen.
Die Scheinwerfer, die den Landeplatz eben noch von allen Seiten beleuchtet hatten, erloschen. Der Triton drehte sich zur von der Sonne beleuchteten Tagseite des Neptuns. So düster das vom Neptun reflektierte graue Licht auch war, der Riesenspiegel des Planeten, der sich lediglich dreihundertfünfzigtausend Kilometer entfernt vom Triton befand, zerstreute die Finsternis und schuf auf dem Satelliten eine helle Dämmerung, ähnlich der Frühjahrsdämmerung in den nördlichen Breiten der Erde. Der Triton umkreiste den Neptun in der entgegengesetzten Richtung zur Rotation des Planeten, das heißt, von Osten nach Westen, einmal in ungefähr sechs irdischen Tagen, sodass seine Tagphase zirka siebzig Stunden dauerte. In dieser Zeit drehte sich der Neptun viermal um seine eigene Achse, und nun zog der Schatten des Satelliten gerade über die neblige Scheibe.
Fast gleichzeitig erblickten der Kommandant und der Biologe ein kleines Schiff, das weit entfernt vom Rande des Plateaus stand. Es war keines jener Sternenschiffe mit verdicktem Heck und hohen Stabilisationsflügeln. Dem äußerst spitzen Bug und schlanken Rumpf nach zu urteilen war es ein Planetenschiff, seine Konturen jedoch unterschieden sich von einem solchen durch einen dicken Ring am Heck und einem langen spindelförmigen Aufbau.
„Noch ein Schiff in Quarantäne?“, fragte Eon. „Hat der Rat vielleicht seine Gewohnheit geändert?“
„Sie meinen, keine neue Sternenexpedition zu entsenden, ehe die letzte nicht zurück ist“, sagte Erg Noor. „Wir haben zwar unseren Flugplan eingehalten, aber der Bericht, den wir von der Sirda senden sollten, kam zwei Jahre zu spät.“
„Vielleicht ist es eine Expedition zum Neptun?“, sagte der Biologe.
Sie hatten den zwei Kilometer langen Weg zum Sanatorium bald zurückgelegt und stiegen zu einer breiten, mit rotem Basalt eingefassten Terrasse hinauf. Die winzige Scheibe der Sonne, die vom Pol des sich langsam drehenden Satelliten aus zu sehen war, leuchtete nur wenig heller als die anderen Sterne am schwarzen Himmel. Es herrschten hundertsiebzig Grad unter null, trotzdem fühlte sich diese Kälte dank der heizbaren Raumanzüge nicht stärker als die eines irdischen Polarwinters. Riesige Schneeflocken aus gefrorenem Ammoniak oder Kohlenmonoxid trieben langsam durch die windstille Atmosphäre, verliehen der Gegend eine beschauliche Ruhe und erinnerten stark an irdischen Schneefall.
Erg Noor und Eon Tal blickten wie hypnotisiert auf die Schneeflocken, so wie es ihre Vorfahren in gemäßigten fernen Breiten getan hatten, für die der erste Schnee stets das Ende der Landarbeit bedeutete. Für die beiden Männer kündigte dieser ungewöhnliche Schnee das Ende ihrer Strapazen und Reise an.
Der Biologe reichte dem Kommandanten, einer unbewussten Regung folgend, die Hand.
„Unsere Abenteuer sind zu Ende, und es ist Ihnen zu verdanken, dass wir unversehrt geblieben sind.“
Erg Noor wehrte schroff ab.
„Sind wir alle unversehrt? Und wem habe ich meine Unversehrtheit zu verdanken?“
Eon Tal ließ sich nicht beirren.
„Ich bin sicher, man wird Nisa retten können! Die Ärzte hier wollen unverzüglich mit der Behandlung beginnen. Sie haben bereits Anweisungen von höchster Stelle — von Grim Schar, dem Leiter des Laboratoriums für allgemeine Lähmungserscheinungen — erhalten.“
„Weiß man schon, was es ist?“
„Vorläufig noch nicht. Aber es ist klar, dass Nisa von einer Art Starkstrom verletzt wurde, der die chemische Struktur der Nervenstränge des vegetativen Nervensystems verändert hat. Wenn wir dahinterkommen, wie man seine außergewöhnlich lange Wirkung aufheben kann, dann wird das Mädchen geheilt werden. Haben wir denn nicht auch den Mechanismus lang anhaltender psychischer Paralysen entdeckt, die jahrhundertelang als unheilbar galten? Hier handelt es sich um etwas Ähnliches, nur von einem äußeren Erreger hervorgerufen. Wenn man erst Versuche an meinen mitgebrachten Gefangenen machen kann, ganz gleich, ob sie leben oder nicht, dann werde ich auch bald meinen Arm wieder gebrauchen können!“
Beschämt runzelte der Expeditionsleiter die Stirn. Über seinem Kummer hatte er vergessen, wie viel der Biologe für ihn getan hatte. Peinlich für einen erwachsenen Menschen! Er ergriff die Hand des Biologen, und beide Wissenschaftler drückten ihre gegenseitige Sympathie durch die uralte Geste des männlichen Händedrucks aus.
„Glauben Sie, dass die Tötungsorgane der schwarzen Medusen und dieses kreuzförmige Monster von derselben Art sind?“, fragte Erg Noor.
„Ich bin ganz sicher. Meine Hand liefert einen handfesten Beweis dafür“, sagte der Biologe, ohne das zufällig sich ergebende Wortspiel zu bemerken. „In der Ansammlung und Umwandlung von elektrischer Energie äußerte sich die gemeinsame Anpassung dieser schwarzen Wesen, der Bewohner eines an Elektrizität reichen Planeten. Es sind die reinsten Raubtiere, aber worin ihre natürliche Beute besteht, wissen wir vorläufig noch nicht.“
„Aber können Sie sich erinnern, was mit uns allen passierte, ehe Nisa…“
„Das ist etwas anderes. Ich habe lange darüber nachgedacht. Ich denke, das Auftauchen des schrecklichen Kreuzes wurde von einem Infraschall von größter Stärke begleitet, der unser Bewusstsein ausschaltete. In dieser schwarzen Welt sind auch die Töne schwarz und unhörbar. Das fremde Wesen unterdrückte unser Bewusstsein durch Infraschall und wandte dann eine Art von Hypnose an, die stärker war als jene der heute ausgestorbenen Riesenschlangen, zum Beispiel der Anakonda. Genau das hätte uns beinahe das Leben gekostet, wenn Nisa nicht…“
Der Expeditionsleiter sah zur fernen Sonne auf, die jetzt auch auf der Erde schien. Die Sonne war die ewige Hoffnung des Menschen. Das war sie schon seit prähistorischer Zeit, als die Menschheit noch inmitten der schonungslosen Natur ihr armseliges Dasein fristete. Die Sonne war die Verkörperung der hellen Kraft der Vernunft, die die Finsternis und die Ungeheuer der Nacht verjagt. Ein Funke freudiger Hoffnung nistete sich in Erg Noors Bewusstsein ein, der für den Rest der Reise sein steter Begleiter wurde.
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