»Du Arschloch«, sagte er zu sich, als er am Fenster stand, einen Fetzen der ZeitungspapierVerpackung in der einen Hand, die Titelseite mit der Schlagzeile in der anderen. »Du verdammtes … unreifes … Arschloch !«
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Centers for Disease Control and Prevention, Atlanta
Ende Januar
Schwere, träge Wolken, dünnes Sonnenlicht, das farblos ins Büro des Direktors fiel. Mark Augustine trat von der Kunststofftafel mit dem Gekritzel kreuz und quer verlaufender Linien und Namen zurück, stützte den Ellenbogen in die Hand und rieb sich an der Nase. Ganz unten in der komplizierten Zeichnung, noch unter Shawbeck, dem Direktor der NIH, und Augustines bisher nicht benanntem Nachfolger an den CDC, stand die Sonderarbeitsgruppe für die Erforschung menschlicher Proviren, die Taskforce for Human Provirus Research, kurz THUPR genannt, ausgesprochen wie »super« mit lispelndem S. Augustine mochte den Namen nicht und sprach immer nur von der Taskforce; einfach nur Taskforce.
Er fuhr mit der Hand an der grafischen Darstellung der Verwaltungshierarchie hinunter.
»Da haben wir’s, Frank. Ich höre hier nächste Woche auf und gehe nach Bethesda, ganz an den unteren Rand dieses Durcheinanders. Dreiunddreißig Stufen abwärts. So weit sind wir schon.
Bürokratie in Hochform.«
Frank Shawbeck lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »Es hätte noch schlimmer kommen können. Wir haben fast den ganzen Monat gebraucht, um die Sache zurückzustutzen.«
»Es könnte weniger albtraumhaft sein. Es ist immer noch ein Albtraum.«
»Du weißt wenigstens, wer dein Chef ist. Ich bin sowohl dem Gesundheitsminister als auch dem Präsidenten gegenüber verantwortlich«, sagte Shawbeck. Sie hatten es zwei Tage zuvor erfahren.
Shawbeck sollte an den NIH bleiben, wurde aber zum Direktor befördert. »Genau im Auge des guten alten Zyklons. Ehrlich gesagt, bin ich froh, dass Maxine sich entschlossen hat, nicht zurückzutreten. Sie ist als Zündschnur viel besser geeignet als ich.«
»Täusch’ dich nicht«, sagte Augustine. »Sie ist eine bessere Politikerin als wir beide. Wir würden einen Rückzieher machen, wenn es darauf ankommt.«
»Wenn es darauf ankommt«, sagte Shawbeck, aber seine Miene war nüchtern.
» Wenn , Frank«, wiederholte Augustine. Er grinste Shawbeck mit seiner typischen Grimasse an. »Die WHO will, dass wir alle Untersuchungen im Ausland koordinieren — und sie wollen auch in die USA kommen und ihre eigenen Tests durchführen. Die Gemeinschaft unabhängiger Staaten ist völlig hilflos … Russland hat sich seinen Republiken gegenüber zu lange als Herr aufgespielt.
Da ist keine Koordination möglich, und Dicken konnte aus Georgien und Aserbeidschan keinen Mucks herausholen. Man wird uns dort so lange keine Untersuchungen gestatten, bis die politische Situation sich stabilisiert hat, was das auch heißen mag.«
»Wie schlimm ist es dort?«, fragte Shawbeck.
»Schlimm, mehr wissen wir nicht. Sie bitten nicht um Hilfe. Sie haben die Herodes-Grippe schon seit zehn oder zwanzig Jahren, vielleicht auch länger … Und sie werden damit auf ihre Weise auf lokaler Ebene fertig.«
»Mit Massenmord.«
Augustine nickte. »Sie wollen nicht, dass es herauskommt, und erst recht sollen wir nicht sagen, SHEVA hätte bei ihnen seinen Ursprung. Der Stolz des jungen Nationalismus. Wir werden so lange wie möglich den Mund halten, schon damit wir dort noch einen Fuß in der Tür haben.«
»Du lieber Gott. Und wie sieht es in der Türkei aus?«
»Dort haben sie unsere Hilfe angenommen und lassen unsere Inspektoren ins Land, aber wir dürfen uns nicht an den Grenzen zum Irak und zu Georgien umsehen.«
»Wo ist Dicken jetzt?«
»In Genf.«
»Er hält die WHO auf dem Laufenden?«
»Über jeden einzelnen Schritt«, sagte Augustine. »Durchschläge von allen Berichten gehen an WHO und UNICEF. Der Senat schreit schon wieder. Sie drohen, die Zahlungen an die UN einzustellen, solange wir kein klares Bild davon haben, wer auf der weltweiten Bühne was bezahlt. Sie wollen nicht, dass wir die Hand drauf haben, wenn wir irgendeine Behandlungsmethode finden — und dass vielleicht nicht wir die finden, können sie sich nicht vorstellen.«
Shawbeck hob die Hand. »Vermutlich werden wir es tatsächlich sein. Für morgen habe ich Besprechungen mit vier Vorstandsvorsitzenden angesetzt — Merck, Schering Plough, Lilly, BristolMyers. Nächste Woche Americol und Euricol. Sie wollen über gemeinsames Vorgehen und Subventionen sprechen. Und das ist noch nicht alles: Heute Nachmittag kommt Dr. Gallo — er will Zugang zu allen unseren Forschungsergebnissen.«
»Aber das hier hat doch nichts mit HIV zu tun«, sagte Augustine.
»Er behauptet, es könne eine ähnliche Rezeptoraktivität sein.
Das ist weit hergeholt, aber er ist berühmt und hat auf dem Hill eine Menge zu sagen. Und offenbar kann er uns auch bei den Franzosen von Nutzen sein, nachdem sie jetzt wieder zusammenarbeiten.«
»Wie sollen wir das therapieren, Frank? Verdammt noch mal, meine Leute haben SHEVA bei allen Affen gefunden, von grünen Meerkatzen bis zu Berggorillas.«
»Für Pessimismus ist es noch zu früh«, erwiderte Shawbeck. »Es sind erst drei Monate.«
»Wir haben allein an der Ostküste vierzigtausend bestätigte Fälle von Herodes-Grippe, Frank! Und kein Silberstreif am Horizont! «
Augustine schlug mit der Faust auf die Kunststofftafel.
Shawbeck schüttelte den Kopf, hob beide Hände und machte leise, zischende Geräusche.
Augustine mäßigte seine Lautstärke und ließ die Schultern hängen. Dann nahm er einen Lappen und wischte sich sorgfältig die Handkante ab, mit der er die Farbe auf der Tafel verschmiert hatte. »Das Positive ist, dass es sich herumspricht«, sagte er. »Wir hatten schon zwei Millionen Zugriffe auf unsere HerodesWebsite.
Aber hast du gestern Abend Audrey Korda in Larry King Live gehört?«
»Nein«, sagte Shawbeck.
»Sie meint, Männer seien mehr oder weniger Teufel in Menschengestalt. Sie sagt, Frauen sollten ohne uns auskommen, man solle uns in Quarantäne stecken — pffi !« Seine Hand schoss nach vorn. »Kein Sex mehr, kein SHEVA mehr.«
Shawbecks Augen glitzerten wie kleine feuchte Steine. »Vielleicht hat sie Recht, Mark. Hast du die Liste der Leiterin des Gesundheitswesens mit den extremen Maßnahmen gesehen?«
Augustine ließ die Hand nach hinten durch seine sandfarbenen Haare gleiten. »Ich hoffe bloß, dass die nie an die Öffentlichkeit kommt.«
Wie kleine blaue Kaulquappen lagen Zahnpastatropfen im Waschbecken. Kaye spülte sich den Mund, spuckte das Wasser im hohen Bogen aus, um die Kaulquappen in den Abfluss zu befördern, und rieb sich das Gesicht mit einem Handtuch ab. Dann stellte sie sich in den Eingang des Badezimmers und blickte die lange Treppe hinauf zur geschlossenen Tür des ehelichen Schlafzimmers.
Es war ihre letzte Nacht in dem Haus; sie hatte im Gästezimmer geschlafen. Noch einmal sollte um elf Uhr heute Vormittag ein — kleiner — Umzugswagen kommen und die wenigen Habseligkeiten abholen, die sie mitnehmen wollte. Caddy würde Crickson und Temin adoptieren.
Das Haus stand zum Verkauf. Bei dem derzeitigen Immobilienboom würde sie dafür einen Superpreis erzielen. Wenigstens dieses Geld war vor den Gläubigern sicher: Saul hatte das Haus auf sie überschrieben.
Sie suchte heraus, was sie anziehen wollte — einfacher weißer Slip und BH, eine Kombination aus Bluse und cremefarbenem Pullover, hellblaue Hose — und verstaute die wenigen Kleidungsstücke, die noch nicht verpackt waren, in einem Koffer. Sie war es Leid, sich um Sachen zu kümmern, dieses und jenes Sauls Schwester zuzuteilen, Beutel als Kleiderspenden zu kennzeichnen, anderes auf den Müll zu werfen.
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