Fast eine Woche hatte sie gebraucht, um diejenigen Spuren ihres gemeinsamen Lebens zu beseitigen, die sie nicht mitnehmen wollte und die nach Überzeugung des Immobilienmaklers potenzielle Käufer eher abschrecken würden. Vorsichtig hatte er ihr erklärt, wie verheerend sich »diese ganzen Wissenschaftsbücher und Fachzeitschriften« auswirken könnten: »Zu abstrakt. Zu kalt. Einfach die falsche Farbe.«
Kaye malte sich aus, wie kritischgeistlose Paare, snobistische OberschichtFuzzis, in dem Haus einfallen würden, chic gekleidet in Tweed und Mokassins oder in weiche Seide und knielange Mikrofaser, Leute, die jedes Zeichen echter Individualität und Intellektualität vermieden, die Stiltipps aus den Sonntagsbeilagen der Zeitungen dagegen höchst reizvoll fanden. Nun ja, auch das Haus selbst hatte einige solche Reize zu bieten. Zusammen mit Saul hatte sie Möbel, Gardinen und Teppiche gekauft, die keinen offenen Angriff auf diese Art von Attraktivität darstellten. Aber bevor das Haus auf den Markt geworfen wurde, musste sie ihr gemeinsames Leben daraus entfernen.
Ihr gemeinsames Leben. Saul hatte seinem Anteil an der Fortsetzung ein Ende gemacht. Hier löschte sie die Hinweise auf ihre gemeinsame Zeit aus; AKS fledderte und verteilte ihr gemeinsames Berufsleben.
Der Immobilienmakler war rücksichtvoll gewesen und hatte Sauls blutiges Ende nicht erwähnt.
Wie lange würden die Schuldgefühle anhalten? Auf dem Weg die Treppe hinunter hielt sie inne und biss sich in den Daumenballen.
So oft sie sich auch einen Ruck gab und auf irgendein Gleis zurückzufinden versuchte, das ihr geblieben war, immer wieder driftete sie in ein Labyrinth der Assoziationen ab, auf emotionale Pfade, die ihre Traurigkeit noch verstärkten. Das Angebot der HerodesTaskforce war eine Möglichkeit, wieder eine eindeutige Richtung einzuschlagen, einen neuen, nüchternen und stabilen Weg. Die Merkwürdigkeiten der Natur würden ihr helfen, über die Merkwürdigkeiten ihres eigenen Lebens hinwegzukommen.
Das war zwar bizarr, aber es war auch annehmbar und glaubhaft; so konnte ihr Leben funktionieren.
Die Türklingel läutete melodisch »Eleanor Rigby«. Ein Anklang an Saul. Kaye stieg die letzten Stufen hinunter und öffnete die Tür. Unter dem Vordach stand Judith Kushner mit verkniffenem Gesicht. »Ich bin sofort gekommen, nachdem ich ein Muster erkennen konnte«, sagte sie. Judith trug einen schwarzen Wollrock, schwarze Schuhe und eine weiße Bluse; die Gürtelschnalle ihres Regenmantels schleifte auf dem Boden.
»Hallo Judith«, sagte Kaye ein wenig verlegen. Kushner griff nach der Tür, bat mit einem Blick gewissermaßen um die Erlaubnis einzutreten und trat ins Haus. Sie warf den Mantel ab und hängte ihn über einen stummen Diener aus Ahornholz.
»Mit Muster meine ich, dass ich acht Leute angerufen habe, die ich kenne, und Marge Cross hat sich mit allen in Verbindung gesetzt. Sie ist persönlich zu ihren Wohnungen gefahren — und hat immer gesagt, sie sei auf dem Weg zu irgendeiner geschäftlichen Besprechung. Immerhin wohnen fünf in der Nähe von New York, es ist also eine gute Ausrede.«
»Marge Cross — von Americol?«, fragte Kaye.
»Und von Euricol. Es würde mich nicht wundern, wenn sie auch in Übersee die Fäden zieht. Du lieber Gott, Kaye, sie ist ein großes Tier — Linda und Herb sind jetzt bei ihr. Und das sind nur die Ersten.«
»Bitte, Judith, mach mal ein bisschen langsam!«
»Fiona hat wie ein Mondkalb geguckt, als ich bei Cross abgesagt habe, ich schwöre es dir! Aber ich finde diese Konzernscheiße widerlich. Ich hasse sie wie die Pest. Kannst mich Sozialistin nennen — oder Kind der Sechziger …«
»Bitte«, sagte Kaye und hob die Hände, um den Wortschwall abzuwehren. »Wenn du weiter so wütend bist, dauert es noch ewig.«
Kushner hielt inne und starrte sie an. »Du bist schlau, meine Liebe. Du wirst schon wissen, was ich meine.«
Kaye dachte einen Augenblick nach. »Marge Cross und Americol wollen ein Stück vom SHEVAKuchen?«
»Sie bekommt nicht nur ihre Krankenhäuser voll, sondern sie kann sie auch direkt mit allen Medikamenten versorgen, die ›ihre‹
Arbeitsgruppe entwickelt. Therapieprogramme, exklusiv für Krankenversicherungen, die mit Americol verbunden sind. Dann gibt sie noch bekannt, dass sie ein hochkarätiges Team hat, und die Bewertung ihrer Firma geht durch die Decke.«
»Sie will mich?«
»Debra Kim hat mich angerufen. Sie sagt, Marge Cross würde ihr ein Labor geben, ihre SCIDMäuse unterbringen, ihr die Patente für die Choleratherapie abkaufen — zu einem sehr fairen Preis, der sie richtig reich machen würde. Und alles, bevor es überhaupt eine Therapie gibt. Debra wollte wissen, was sie dir sagen soll.«
»Debra?« Kaye ging das alles viel zu schnell.
»Marge ist psychologisch sehr geschickt. Das weiß ich. Wir haben in den Siebzigerjahren zusammen Medizin studiert. Nebenher hat sie noch das Examen in Betriebswirtschaft gemacht. Eine Menge Energie, hässlich wie die Nacht, keine Männergeschichten, viel Zeit, die du und ich mit Affären vergeudet hätten … 1987 hat sie der Medizin den Rücken gekehrt, und sieh sie dir heute an!«
»Was will sie von mir?«
Kushner zuckte die Achseln. »Du bist eine Vorreiterin, eine Berühmtheit — du lieber Gott, Saul hat aus dir eine Art Märtyrerin gemacht, vor allem für Frauen … Frauen, die eine Therapie brauchen. Du hast ausgezeichnete Referenzen, ausgezeichnete Veröffentlichungen, die Glaubwürdigkeit kommt dir sozusagen zu den Ohren raus. Ich dachte, sie würden den Boten umbringen, Kaye. Aber jetzt sieht es so aus, als wollten sie dir den Lorbeerkranz aufsetzen.«
»Du liebe Güte.« Kaye ging ins Wohnzimmer mit den nackten Wänden und setzte sich auf die frisch gereinigte Couch. Der Raum roch nach Seife mit leichtem Kiefernduft, ein wenig wie im Krankenhaus.
Kushner schnupperte und runzelte die Stirn. »Riecht, als ob hier Roboter wohnen.«
»Der Makler hat gesagt, es sollte sauber duften«, erwiderte Kaye; sie versuchte, Zeit zu gewinnen und ihre Gedanken zu ordnen.
»Und als sie oben sauber gemacht haben … nachdem Saul … der Duft ist geblieben. PineSol. Lysol. Irgend so etwas.«
»Mein Gott«, sagte Kushner leise.
»Du hast Marge Cross abgesagt?«, fragte Kaye.
»Ich habe genug Arbeit für den Rest meines Lebens, Liebes. Ich brauche keine überdrehte Geldmaschine, die mir sagt, wo es lang geht. Hast du sie im Fernsehen gesehen?«
Kaye nickte.
»Glaub’ ihrem Image nicht.«
Ein Wagen rumpelte durch die Einfahrt. Durch das vordere Erkerfenster sah Kaye eine große, dunkelgrüne ChryslerLimousine.
Ein junger Mann im grauen Anzug stieg aus und öffnete die rechte hintere Tür. Debra Kim kam zum Vorschein, blickte sich um und schützte das Gesicht mit der Hand vor dem kalten Seewind.
Gerade fielen die ersten Schneeflocken.
Der junge Mann in Grau riss die linke hintere Tür auf, und nun erhob sich Marge Cross in ihrer vollen Größe von einem Meter achtzig, im dunkelblauen Wollmantel, die graumelierten Haare zu einem würdevollen Knoten frisiert. Sie sagte etwas zu dem jungen Mann, der daraufhin nickte, zur Fahrertür zurückkehrte und sich gegen den Wagen lehnte. Cross und Debra Kim gingen auf die Haustür zu.
»Jetzt bin ich baff«, sagte Kushner. »Die arbeitet schneller, als ich denken kann.«
»Du wusstest nicht, dass sie kommen würde?«
»Nicht so schnell. Soll ich zum Hinterausgang raus?«
Kaye schüttelte denn Kopf, und zum ersten Mal seit Tagen konnte sie ein Lachen nicht unterdrücken. »Nein. Ich möchte sehen, wie ihr beiden um meine Seele feilscht.«
»Ich mag dich, Kaye, aber auf eine Diskussion mit Marge lasse ich mich nicht ein.«
Kaye eilte zum Eingang und öffnete, bevor Cross klingeln konnte. Die Besucherin ließ ein breites, freundliches Grinsen sehen; ihr eckiges Gesicht und die kleinen grünen Augen strahlten mütterliche Fröhlichkeit aus.
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