Selbstgerechter Zorn war nicht produktiv.
Er hatte den Zusammenhang erkannt. Die Verletzung der Frau passte zu der Wunde bei dem Kind. Die Frau hatte es zur Welt gebracht oder vielleicht abgetrieben. Der Mann war dabei geblieben und hatte das Neugeborene in Fell gewickelt, obwohl es wahrscheinlich tot geboren war. Hatte der Mann die Frau angegriffen?
Das glaubte Mitch nicht. Sie waren verliebt. Er hing an ihr. Sie waren vor irgendetwas auf der Flucht. Und woher wusste er das alles?
Mit außersinnlicher Wahrnehmung oder der Anrufung von Geistern hatte es nichts zu tun. Mitch hatte einen nicht unerheblichen Teil seiner Berufslaufbahn darauf verwendet, die mehrdeutigen Beobachtungen an archäologischen Fundstätten zu interpretieren. Manchmal kam er durch nächtelanges Grübeln auf die Antwort, manchmal auch, wenn er auf Steinen saß und die Wolken oder den gestirnten Nachthimmel betrachtete. Und in seltenen Fällen zeigte sich die Lösung im Traum. Solche Interpretationen waren Wissenschaft und Kunst zugleich.
Tagein, tagaus zeichnete Mitch Diagramme, schrieb kurze Notizen, notierte etwas in seinem kleinen, in Vinyl gebundenen Tagebuch. Er heftete ein Stück Pergamentpapier an die Wand des kleinen Zimmers und zeichnete darauf einen Lageplan der Höhle, wie er sie in Erinnerung hatte. Er klebte die aus Papier ausgeschnittenen Umrisse der Mumien auf das Pergamentpapier. Er setzte sich hin und starrte das Pergamentpapier mit den ausgeschnittenen Gestalten an. Er biss sich die Fingernägel bis auf das Fleisch ab.
Einmal trank er an einem Nachmittag einen ganzen Sixpack CoorsBier. Es war nach langen Tagen des Grabens einer seiner liebsten Flüssigkeitsspender gewesen, aber diesmal tat er es ohne Grabung, ohne Zweck, nur um etwas anderes auszuprobieren. Er schlief ein, wachte um drei Uhr morgens wieder auf und ging auf der Straße spazieren, an einem Schnellimbiss vorüber, einem mexikanischen Restaurant, einer Buchhandlung, einem Zeitungsstand und einer Starbuck’sKaffeebar.
Dann kehrte er zu seiner Wohnung zurück, und ihm fiel ein, dass er nach seiner Post sehen könnte. Eine Pappschachtel war angekommen. Er trug sie die Treppe hinauf und schüttelte sie sanft.
Bei einer Buchhandlung in New York hatte er eine alte Ausgabe des National Geographic mit einem Artikel über den Eismenschen Ötzi bestellt. Das Heft war in alte Zeitungen verpackt.
Liebevoll. Mitch wusste, dass sie liebevoll zueinander gewesen waren. Wie sie nebeneinander lagen. Wie das männliche Wesen seine Arme hielt. Es war bei dem weiblichen Wesen geblieben, obwohl es hätte fliehen können. Was zum Teufel — nun sag’ es schon. Der Mann war bei der Frau geblieben. Neandertaler waren keine Untermenschen; mittlerweile war allgemein anerkannt, dass sie eine Sprache besaßen und über komplizierte Sozialstrukturen verfügten. Stämme. Nomaden, Händler, Werkzeugmacher, Jäger und Sammler.
Mitch versuchte sich vorzustellen, was sie wohl vor zehn- oder elftausend Jahren dazu bewogen hatte, sich im Gebirge zu verstecken, in einer Höhle hinter dem Eispanzer. Vielleicht waren sie die Letzten ihrer Art.
Und sie hatten ein Baby zur Welt gebracht, das in den meisten Aspekten nicht von einem heutigen Kind zu unterscheiden war.
Er riss die Verpackung aus Zeitungspapier von dem Magazin, schlug es auf und blätterte bis zu der Ausklappkarte, auf der die Alpen zu sehen waren — die grünen Täler, die Gletscher, die Stelle, an der man den Eismenschen aus dem Eis freigehackt hatte.
Heute wurde der Eismensch in Italien zur Schau gestellt. In der Frage, wo man den fünftausend Jahre alten Leichnam gefunden hatte, gab es zunächst internationale Meinungsverschiedenheiten, und nachdem die wichtigsten Untersuchungen in Innsbruck abgeschlossen waren, hatte Italien schließlich Anspruch darauf erhoben.
Die Neandertaler standen eindeutig Österreich zu. Man würde sie an der Universität Innsbruck untersuchen, vielleicht in dem selben Institut, wo man zuvor den Ötzi studiert hatte. Sie waren tiefgefroren in genau kontrollierter Luftfeuchtigkeit gelagert; durch ein kleines Fenster konnte man sie sehen: Sie lagen nebeneinander, wie sie gestorben waren.
Mitch schlug die Zeitschrift zu und drückte seine Nase mit zwei Fingern zusammen, als ihm einfiel, wie entsetzlich durcheinander er sich gefühlt hatte, nachdem er auf den Pasco-Menschen gestoßen war. Ich habe die Beherrschung verloren. Ich wäre fast ins Gefängnis gewandert. Ich bin nach Europa gegangen, um etwas Neues auszuprobieren. Ich habe etwas Neues gefunden. Ich habe mich verrannt und es vermasselt. Ich habe keinerlei Glaubwürdigkeit mehr.
Was soll ich machen, wenn ich an solche unmöglichen Dinge glaube?
Ich bin ein Grabräuber. Ich bin ein Verbrecher, ein Bösewicht, und das sogar in doppelter Hinsicht.
Bedächtig strich er die zerknüllte Verpackung glatt, die aus der New York Times stammte. Dabei blieb sein Blick an einem Artikel in der unteren rechten Ecke eines zerrissenen Zeitungsblattes hängen. Die Überschrift lautete: »Georgien: alte Verbrechen, neu aufgerollt«. Aberglaube und Tod zu Füßen des Kaukasus. Schwangere Frauen aus drei Städten, zusammengetrieben mit ihren Ehemännern oder Partnern, abgeführt von Soldaten und Polizei, damit sie sich außerhalb einer Kleinstadt namens Gordi ihr eigenes Grab gruben. Direkt neben einer Werbeanzeige für Aktienhandel über das Internet.
Als Mitch den Artikel zu Ende gelesen hatte, schüttelte er sich vor Ärger und Erregung.
Die Frauen hatte man in den Bauch geschossen. Ihre Männer hatten Schüsse in die Leistengegend erhalten und waren dann erschlagen worden. Der Skandal erschütterte die georgische Regierung. Dort behauptete man, die Morde seien unter dem GamsachurdiaRegime begangen worden, das Anfang der Neunzigerjahre gestürzt worden war, aber einige Personen, denen eine Beteiligung vorgeworfen wurde, waren nach wie vor im Amt.
Warum man die Männer und Frauen ermordet hatte, war alles andere als geklärt. Einige Einwohner von Gordi beschuldigten die toten Frauen, sie hätten sich mit dem Teufel eingelassen, und deshalb sei der Mord notwendig gewesen; sie hätten Kinder des Satans zur Welt gebracht und Fehlgeburten bei anderen Müttern verursacht.
Es gab Spekulationen, diese Frauen seien einem frühen Ausbruch der Herodes-Grippe zum Opfer gefallen.
Mitch humpelte in die Küche und blieb dabei mit dem nackten Zeh, der unten aus seinem Gipsverband ragte, an einem Stuhlbein hängen. Er fuhr herum und fluchte; dann griff er nach unten und zog aus einem dünnen Zeitungsstapel, der in einer Ecke neben den grauen, grünen und blauen Plastikbehältern für die Mülltrennung lag, den vorderen Teil einer zwei Tage alten Seattle Times hervor. Die Schlagzeile lautete: Bekanntmachung über die Herodes-Grippe durch den Präsidenten, die Leiterin der Gesundheitsbehörde und den Gesundheitsminister. Daneben erläuterte eine Kolumne — sie stammte von dem selben Wissenschaftsredakteur, der Mitch so abschätzig beurteilt hatte — den Zusammenhang zwischen Herodes-Grippe und SHEVA. Krankheit. Fehlgeburten.
Mitch setzte sich auf den verschlissenen Sessel am Fenster, blickte hinaus auf den Broadway und sah gleichzeitig, wie seine Hände zitterten.
»Ich weiß etwas, das sonst niemand weiß«, sagte er und umklammerte mit den Händen die Armlehnen. »Aber ich habe nicht die geringste Ahnung, woher ich es weiß oder was ich damit anfangen soll !«
Wenn jemals ein Mensch der Falsche für eine so unglaubliche Erkenntnis war, für einen so gewaltigen, aus dem Nichts entstandenen Gedankensprung, dann war es Mitch Rafelson. Es wäre für alle Beteiligten besser gewesen, er hätte nach dem Mann im Mond gesucht.
Es war jetzt an der Zeit, entweder aufzugeben, ein paar Dutzend Kästen Bier zu leeren und sich auf einen trägen, langweiligen Niedergang einzustellen, oder ein Fundament zu zimmern, auf dem er stehen konnte, und dazu sorgfältig eine wissenschaftlich begründete Planke nach der anderen zusammenzunageln.
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