Als Kaye ihr Auto abstellte, standen drei Umzugswagen vor dem Vordereingang von EcoBacter. Am Empfangsschalter rollten zwei Männer einen EdelstahlLaborkühlschrank an ihr vorüber. Ein anderer trug einen Titrierplattenzähler, und dahinter kam ein vierter mit der Zentraleinheit eines PC. EcoBacter wurde von Ameisen bis auf die Knochen abgenagt.
Nicht dass es noch etwas ausgemacht hätte. Ausgeblutet war die Leiche ohnehin schon.
Sie ging in ihr Büro, das man bisher nicht angerührt hatte, und schloss die Tür energisch hinter sich. Als sie auf ihrem blauen Schreibtischsessel saß — er hatte zweihundert Dollar gekostet und war sehr bequem —, fuhr sie ihren Computer hoch und loggte sich mit ihrem Passwort bei der Stellenvermittlung des Internationalen Verbandes der Biotechnologieunternehmen ein. Was ihr Agent in Boston ihr gesagt hatte, stimmte. Mindestens vierzehn Universitäten und sieben Firmen waren an ihr interessiert. Sie blätterte auf dem Bildschirm die Angebote durch. Dauerstellung, Aufbau und Leitung eines kleinen Labors für Virusforschung in New Hampshire … Professorin für Biologie an einem privaten College in Kalifornien, eine christliche Schule, Baptisten …
Sie musste lächeln. Ein Angebot von der medizinischen Fakultät der University of California in Los Angeles — dort sollte sie mit einem nicht genannten, angesehenen Professor für Genetik in einem Forschungsteam arbeiten, das sich mit erblichen Erkrankungen und ihrem Zusammenhang mit Provirusaktivität befasste. Das merkte sie sich vor.
Nach einer Viertelstunde lehnte sie sich zurück und rieb sich dramatisch die Stirn. Stellensuche war ihr immer zuwider gewesen. Aber sie durfte den Impuls jetzt nicht verpuffen lassen. Bisher hatte sie keine Auszeichnungen erhalten, und das konnte auch in den nächsten Jahren so bleiben. Es war an der Zeit, dass sie ihr Leben in die Hand nahm und aus dem Tief herausfand.
Sie hatte drei der einundzwanzig Angebote markiert und in die engere Wahl gezogen. Schon jetzt war sie erschöpft, und ihre Achselhöhlen waren schweißnass.
Mit einer gewissen Vorahnung sah sie ihre EMails durch, und dabei stieß sie auf eine Nachricht von Christopher Dicken vom NCID. Der Name kam ihr bekannt vor; dann fiel es ihr wieder ein, und jetzt verfluchte sie den Bildschirm, die Nachricht, die darauf stand, den Verlauf ihres Lebens, die ganze dreckige Welt.
Debra Kim klopfte an die durchsichtige Glastür. Kaye fluchte noch einmal sehr lautstark, und Kim spähte mit großen Augen herein.
»Was schreist du mich an?«, fragte sie arglos.
»Man fordert mich auf, in einem Team bei den CDC mitzuarbeiten«, sagte Kaye und schlug mit der Hand auf den Schreibtisch.
»Regierungsauftrag. Großes Gesundheitsprojekt. Freiheit, die eigene Forschung nach eigenem Zeitplan zu betreiben.«
»Saul fand es schrecklich, in einem staatlichen Institut zu arbeiten.«
»Saul war ein widerborstiger Individualist«, erwiderte Kim und setzte sich auf die Ecke von Kayes Schreibtisch. »Jetzt räumen sie meine Ausrüstung weg. Ich denke, für mich gibt es hier nichts mehr zu tun. Meine Fotos und Disketten habe ich, und … du lieber Gott, Kaye!«
Kaye stand auf und umarmte Kim, die zu schluchzen anfing.
»Ich weiß nicht, was ich mit den Mäusen machen soll. Mäuse im Wert von zehntausend Dollar!«
»Wir werden ein Labor finden, das sie für dich aufbewahrt.«
»Aber wie sollen wir sie transportieren? Sie sind voller Vibrio !
Ich werde sie hier töten müssen, bevor sie die Sterilisationsgeräte und den Brennofen abholen.«
»Was sagen die Leute von AKS?«
»Die wollen sie in dem Isolierraum lassen. Sie werden nichts damit anfangen.«
»Das ist ja unglaublich.«
»Sie sagen, es sind meine Patente, und deshalb ist es auch mein Problem.«
Kaye setzte sich wieder und blätterte in der Hoffnung auf eine Erleuchtung ihr Adressregister durch. Es war eine nutzlose Geste.
Kim hatte keinen Zweifel, dass sie in ein bis zwei Monaten eine Stelle finden würde und dort sogar ihre Forschungsarbeiten mit den SCIDMäusen fortsetzen konnte. Aber es würden neue Mäuse sein, und sie würde ein halbes oder ganzes Jahr verlieren.
»Ich weiß nicht, was ich dir sagen soll«, sagte Kaye mit krächzender Stimme und hob hilflos die Hände.
Kim bedankte sich — wofür, wusste Kaye eigentlich kaum. Sie umarmten sich noch einmal, und Kim ging hinaus.
Für Debra Kim und die anderen ehemaligen Angestellten von EcoBacter konnte Kaye so gut wie nichts tun. Sie wusste, dass sie einen ebenso großen Anteil an der Katastrophe hatte wie Saul, dass sie durch ihr Unwissen ebenso dafür verantwortlich war. Sie hasste es, Geldmittel aufzutreiben, hasste Finanzangelegenheiten hasste es, auf Stellensuche zu gehen. Gab es auf dieser Welt irgendetwas Pragmatisches, das sie gern tat?
Sie las noch einmal die Nachricht von Dicken. Jetzt musste sie einen Weg finden, um wieder Wind in die Segel zu bekommen, wieder auf eigenen Füßen zu stehen, wieder in den Wettlauf einzusteigen. Vielleicht war eine kurzfristige staatliche Stelle jetzt genau das Richtige. Warum Christopher Dicken auf sie Wert legte, konnte sie sich nicht vorstellen; sie hatte kaum eine Erinnerung an den kleinen, vierschrötigen Mann in Georgien. Auf ihrem Handy — die Telefonleitungen im Labor waren schon abgeschaltet — wählte sie Dickens Nummer in Atlanta.
»Wir haben die Befunde von zweiundvierzig Kliniken aus dem ganzen Land«, sagte Augustine zum Präsidenten der Vereinigten Staaten. »Bei den Mutationen des Typs, den wir untersuchen, mit nachfolgender Abstoßung des Fetus, wurde in allen Fällen ein eindeutiger Zusammenhang mit der Herodes-Grippe gefunden.«
Der Präsident saß am Kopfende des großen, polierten Ahorntisches im Lageraum des Weißen Hauses. Er war groß und stattlich, und der Kopf mit den weißen, gewellten Haaren wirkte wie ein Leuchtfeuer. Während seines Wahlkampfes hatte man ihn liebevoll auf den Spitznamen »QTip« getauft und damit einen abwertenden Begriff, den jüngere Frauen auf ältere Männer anwandten, in einen Ausdruck von Stolz und Zuneigung verwandelt. Neben ihm saßen: der Vizepräsident; der Sprecher des Repräsentantenhauses, ein Demokrat; der Mehrheitsführer im Senat, ein Republikaner; Dr. Kirby; Shawbeck; der Gesundheitsminister; Augustine; drei Berater des Präsidenten, darunter der Stabschef; der Verbindungsmann des Weißen Hauses für gesundheitspolitische Fragen; und eine Reihe Leute, die Dicken nicht einordnen konnte. Es war ein sehr großer Tisch, und für die Besprechung waren drei Stunden eingeplant.
Wie alle anderen hatte Dicken sein Handy, Pager und Palmtop bei der Sicherheitskontrolle am Eingang abgeben müssen — erst zwei Wochen zuvor hatte das explodierende »Handy« eines Touristen im Weißen Haus beträchtliche Schäden angerichtet.
Von dem Lageraum war er ein wenig enttäuscht — keine hochmodernen Wandbildschirme, Computerschalttafeln oder Warnlampen, sondern nur ein ganz normaler großer Raum mit einem großen Tisch und vielen Telefonen. Aber der Präsident hörte aufmerksam zu.
»SHEVA ist der erste nachgewiesene Fall eines endogenen Retrovirus, das von einem Menschen auf den anderen übertragen wird«, fuhr Augustine fort. »Die Herodes-Grippe wird von SHEVA verursacht, daran gibt es nicht den leisesten Zweifel. Etwas so Bösartiges habe ich in meiner ganzen Mediziner- und Wissenschaftlerlaufbahn noch nicht gesehen. Wenn eine Frau sich im Frühstadium der Schwangerschaft die Herodes-Grippe zuzieht, endet der Fetus — ihr Baby — als Fehlgeburt. Nach unserer Statistik können wir möglicherweise bereits über zehntausend Fehlgeburten auf das Virus zurückführen. Und wenn die derzeitigen Informationen stimmen, sind Männer die einzige Quelle für den Erreger.«
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