Es hatte nichts mit schlimmen Vorahnungen zu tun — sie konnte in Lado lesen wie in einem Buch. Was hatten sie falsch gemacht?
Hatte eine größere Firma ein noch besseres Angebot unterbreitet?
Was würde Saul tun, wenn er dahinter kam? Ihre gesamte Planung gründete sich auf seine optimistische Vorstellung, man kön-ne aus Freundschaft und Freigebigkeit eine handfeste Geschäftsbeziehung machen … Sie waren so dicht davor.
»Es gibt das Metechi Palace«, sagte Lado. »Das beste Hotel in Tiflis … das beste in Georgien. Ich bringe dich zum Metechi!
Jetzt bist du eine echte Touristin, wie im Reiseführer! Vielleicht hast du Zeit, in einer heißen Quelle zu baden … ruh’ dich aus, bevor du nach Hause fliegst.«
Kaye nickte lächelnd, aber es war deutlich zu merken, dass sie nicht bei der Sache war. Plötzlich beugte Lado sich ungestüm nach vorn und nahm ihre Hand in seine trockenen, rissigen Finger, die vom vielen Waschen und Desinfizieren rau geworden waren. Er klopfte mit seiner und ihrer Hand sanft auf ihr Knie. »Es ist nicht das Ende! Es ist ein Anfang! Wir müssen alle stark und geschickt sein!«
Das trieb Kaye die Tränen in die Augen. Sie blickte noch einmal zu den Plakaten — Elbrus und Kazbeg, von Wolken verhüllt, die Gergeti-Kirche, Weinberge und bestellte Felder.
Lado warf die Arme in die Luft, fluchte wortreich auf Georgisch und sprang auf die Füße. »Ich sage ihnen, dass es keine optimale Entscheidung ist«, beharrte er. »Ich sage den Bürokraten in der Regierung, dass wir seit drei Jahren mit dir und mit Saul zusammengearbeitet haben, und das kann man nicht über Nacht umwerfen! Wer braucht denn schon einen Exklusivvertrag? Ich bringe dich zum Metechi.«
Kaye dankte ihm mit einem Lächeln. Lado setzte sich wieder, beugte sich nach vorn, schüttelte niedergeschlagen den Kopf und faltete die Hände. »Es ist ein Unding, was die heutige Welt uns abverlangt!«, erklärte er.
Die jungen Männer schnarchten immer noch.
Christopher Dicken kam zufällig am gleichen Abend auf dem John-F.-Kennedy-Flughafen an wie Kaye Lang und sah sie vor der Zollkontrolle warten. Sie verstaute ihr Gepäck auf einer Kofferkarre, ohne ihn zu bemerken.
Sie sah mitgenommen und bleich aus. Dicken selbst war sechsunddreißig Stunden unterwegs gewesen — er kam gerade mit zwei verschlossenen Metallkisten und einem Seesack aus der Türkei zurück. Unter den derzeitigen Umständen wollte er Lang mit Sicherheit nicht über den Weg laufen.
Dicken wusste selbst nicht genau, warum er Kaye im Eliava-Institut aufgesucht hatte. Vielleicht weil sie unabhängig voneinander bei Gordi das gleiche Grauen erlebt hatten; vielleicht weil er herausfinden wollte, ob sie von den Vorgängen in den Vereinigten Staaten wusste, deretwegen man ihn zurückbeordert hatte; vielleicht aber auch nur, weil er die attraktive, intelligente junge Frau kennen lernen wollte, deren Foto er auf der Website von EcoBacter gesehen hatte.
Er zeigte dem Zollbeamten seinen CDC-Dienstausweis und die Einfuhrerlaubnis des NCID, füllte die einschlägigen fünf Formulare aus und schlenderte durch einen Nebenausgang in eine leere Halle. Seine kaffeegequälten Nerven verliehen allem einen bitteren Beigeschmack. Er hatte auf dem gesamten Flug kein Auge zugetan und sich in der Stunde vor der Landung fünf Tassen hineingeschüttet. Er wollte noch Zeit haben, um zu recherchieren, nachzudenken und sich auf das Treffen mit Mark Augustine vorzubereiten, dem Direktor der Centers for Disease Control and Prevention.
Augustine befand sich derzeit in Manhattan, um dort einen Vortrag über neue Therapieverfahren für AIDS zu halten.
Dicken trug die Kisten ins Parkhaus. Er hatte während des Fluges und auf dem Flughafen jegliches Zeitgefühl verloren; jetzt war er überrascht, dass in New York schon die Dämmerung hereinbrach.
Nachdem er ein Labyrinth von Treppen und Aufzügen hinter sich hatte, fuhr er mit seinem Dienst-Dodge aus dem Parkhaus für Dauerparker und hatte nun den grauen Himmel über der Jamaica Bay vor sich. Auf dem Van Wyck Expressway herrschte dichter Verkehr. Fürsorglich hielt er mit einer Hand die dicht verschlossenen Kisten auf dem Beifahrersitz fest. Die eine enthielt, in Trockeneis frisch gehalten, ein paar Gefäße mit dem Blut und Urin einer Patientin aus der Türkei sowie Gewebeproben ihres abgestoßenen Fetus. In der anderen waren zwei luftdicht verschlossene Plastikbeutel mit mumifiziertem Haut- und Muskelgewebe, ein Geschenk des diensthabenden Kommandanten der erweiterten UN-Friedensmission in der Republik Georgien, Colonel Nicholas Beck.
Das Gewebe aus den Gräbern bei Gordi war ein Schuss ins Dunkle, aber in Dickens Kopf fügte sich langsam eins zum anderen — eine verblüffende, beunruhigende Gesetzmäßigkeit kristallisierte sich heraus. Drei Jahre hatte er darauf verwendet, in der Welt der Viren das Gegenstück zum Höllenhund zu finden — eine sexuell übertragbare Krankheit, die ausschließlich schwangere Frauen befiel und unausweichlich zur Fehlgeburt führte. Es war eine Zeitbombe, genau das, was Dicken nach Augustines Auftrag finden sollte: etwas so Entsetzliches, so Aufwühlendes, dass die CDC garantiert Finanzmittel dafür auftreiben konnten.
Während dieser Jahre war Dicken immer wieder in der Ukraine, Georgien und der Türkei gewesen, jedes Mal in der Hoffnung, Proben zu sammeln und eine epidemiologische Kartierung vorzunehmen. Und immer wieder hatten die staatlichen Gesundheitsbehörden aller drei Länder ihn gegen eine Wand laufen lassen.
Dafür hatten sie ihre Gründe. Dicken hatte von mindestens drei, vielleicht sogar sieben Massengräbern mit den Leichen von Männern und Frauen erfahren, die man angeblich getötet hatte, um die Ausbreitung der Krankheit zu verhindern. Gewebeproben von örtlichen Krankenhäusern zu beschaffen, hatte sich als äußerst schwierig erwiesen, obwohl die betreffenden Staaten offizielle Abkommen mit den CDC und der Weltgesundheitsorganisation geschlossen hatten. Man hatte ihm einzig die Besichtigung des Grabes bei Gordi gestattet, und auch das nur deshalb, weil es sich um eine UN-Untersuchung handelte. Eine Stunde nachdem Kaye Lang dort gewesen war, hatte er den Opfern die Gewebeproben entnommen.
Mit einer Verschwörung zur Vertuschung einer Krankheit hatte Dicken es noch nie zu tun gehabt.
Alle seine Arbeiten waren sicher wichtig und genau das, was Augustine brauchte, aber etwas anderes sollte sie in den Schatten stellen und geradezu lächerlich erscheinen lassen. Während Dicken in Europa war, hatte das verfolgte Wild sich im Heimatrevier der CDC gezeigt. Am Medical Center der University of California in Los Angeles hatte ein junger Wissenschaftler bei mehreren abgestoßenen Feten nach Gemeinsamkeiten gesucht und dabei ein bislang unbekanntes Virus entdeckt. Entsprechende Materialproben hatte er an Epidemiologen geschickt, die in San Francisco mit Forschungsgeldern der CDC arbeiteten. Diese hatten das genetische Material des Virus kopiert und sequenziert. Die Befunde hatten sie sofort an Mark Augustine weitergeleitet.
Und Augustine hatte Dicken zu Hause angerufen. Mittlerweile machten schon Gerüchte die Runde, man habe das erste infektiöse humane endogene Retrovirus oder HERV entdeckt. Außerdem waren in den Medien vereinzelte Berichte über ein Virus erschienen, das Fehlgeburten verursachte. Bisher hatte niemand außerhalb der CDC hier einen Zusammenhang hergestellt. Auf dem Flug von London hatte Dicken eine teure halbe Stunde lang im Internet gesurft und wichtige fachspezifische Seiten und Newsgroups besucht; eine genaue Beschreibung der Entdeckung hatte er nirgendwo gefunden, aber überall war er erwartungsgemäß auf brennende Neugier gestoßen. Kein Wunder. Am Ende würde irgendjemand dafür womöglich den Nobelpreis bekommen — und Dicken hätte darauf wetten mögen, dass dieser Jemand Kaye Lang war.
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