Als professioneller Virusjäger war Dicken schon lange von den HERVs fasziniert, jenen genetischen Fossilien uralter Krankheiten. Auf Lang war er erstmals vor zwei Jahren aufmerksam geworden, als sie in drei Fachaufsätzen einige Stellen auf den Chromosomen 14 und 17 des menschlichen Genoms beschrieb, wo sich Teile möglicherweise vollständiger, infektiöser HERVs befanden.
Ihr genauester Bericht war in dem Fachblatt Virology erschienen und trug den Titel »Ein Modell für Expression, Zusammenbau und horizontale Übertragung chromosomal verteilter env-, pol- und gag- Gene: lebensfähige, alte Retroviruselemente bei Menschen und Affen«.
Art und mögliches Ausmaß der Epidemie waren derzeit ein gut gehütetes Geheimnis, aber ein paar Insider an den CDC wussten immerhin so viel: Die bei den Feten gefundenen Retroviren waren genetisch mit den HERVs identisch und gehörten zum menschlichen Genom, seit sich in der Evolution die Abstammungslinien von Altwelt- und Neuweltaffen aufgespalten hatten. Alle Menschen trugen sie in sich, aber sie waren inzwischen mehr als nur genetischer Abfall oder aufgegebene Bruchstücke. Irgendetwas hatte die verstreuten HERV-Fragmente dazu angeregt, ihre Gene auszuprägen, die in ihnen codierten Proteine und RNA-Moleküle zusammenzufügen und Partikel zu bilden, die den Organismus verlassen und einen anderen infizieren konnten.
Alle sieben abgestoßenen Feten zeigten schwere Fehlbildungen.
Die Partikel verursachten eine Krankheit — vermutlich genau jene, der Dicken bereits seit drei Jahren auf der Spur war. In den CDC hatte sie schon einen hauseigenen Namen: Herodes-Grippe.
Mit der Mischung aus Intelligenz und Glück, wie sie für die meisten großen Wissenschaftlerlaufbahnen typisch ist, hatte Lang genau die Lage jener Gene dingfest gemacht, die offensichtlich die Herodes-Grippe verursachten. Aber sie hatte keine Ahnung, was sie da gefunden hatte — das hatte er ihr in Tiflis an den Augen ablesen können.
Darüber hinaus hatte ihn noch etwas anderes an Langs Arbeit gereizt. Zusammen mit ihrem Mann hatte sie Fachartikel über die Bedeutung transponierbarer genetischer Elemente für die Evolution geschrieben. Diese Elemente, auch springende Gene genannt —
Transposons, Retrotransposons und sogar HERVs —, haben einen Einfluss darauf, wann, wo und wie oft Gene ausgeprägt werden.
Sie verursachen Mutationen und verändern letztlich die äußere Gestalt eines Lebewesens.
Solche transponierbaren Elemente, die Retrogene, sind höchstwahrscheinlich die Vorläufer der Viren; manche von ihnen sind mutiert und haben gelernt, wie man die Zelle verlässt: Man wickelt sich in schützende Kapseln und Hüllen, die genetische Entsprechung zu einem Raumanzug. Einige kehrten später wie verlorene Söhne als Retroviren zurück; und einige infizierten im Laufe der Jahrtausende auch Zellen der Keimbahn — Ei- oder Samenzellen und ihre Vorläufer —, wobei sie irgendwie die Gefährlichkeit verloren. Sie wurden zu HERVs.
Auf seinen Reisen in die Ukraine hatte Dicken aus zuverlässiger Quelle von Frauen erfahren, die Kinder mit mehr oder weniger geringfügigen Besonderheiten zur Welt gebracht hatten, von Kindern, die unbefleckt empfangen worden waren, von ganzen Dörfern, deren Bewohner man getötet oder sterilisiert hatte … stets nach einer Epidemie von Fehlgeburten.
Alles nur Gerüchte, aber Dicken erschienen sie aufschlussreich und sogar plausibel. Bei seiner Suche verließ er sich auf seinen gut ausgebildeten Instinkt. Die Geschichten ließen in ihm etwas anklingen, über das er schon seit über einem Jahr nachdachte.
Vielleicht hatte es eine Verschwörung der Mutagene gegeben.
Vielleicht hatte Tschernobyl oder eine andere Strahlenkatastrophe in der Sowjetzeit die Freisetzung der endogenen Retroviren ausgelöst, die jetzt die Herodes-Grippe verursachten. Aber über diese Theorie hatte er bisher noch mit niemandem gesprochen.
Im Midtown-Tunnel wurde er von einem großen, mit glücklich tanzenden Kühen verzierten Lieferwagen geschnitten und fast gestreift. Er trat scharf auf die Bremse. Das Quietschen der Reifen und die Tatsache, dass er an einem Unfall nur knapp vorbeigeschrammt war, ließen ihm den Schweiß auf die Stirn treten und seinen ganzen Frust und Zorn zum Ausbruch kommen. »Idiot!«, schrie er dem unsichtbaren Fahrer nach. »Das nächste Mal habe ich Ebola an Bord!«
Ihm war absolut nicht nach Milde. Die CDC würden vielleicht schon in wenigen Wochen an die Öffentlichkeit gehen müssen.
Wenn die Tabellen stimmten, würde es bis dahin allein in den Vereinigten Staaten schon über fünftausend Fälle der Herodes-Grippe geben.
Und Christopher Dicken würde man wohl kaum mehr zugute halten als die Arbeit eines guten Fußsoldaten.
Das grünweiße Haus — mittelgroß, aber stattlich, Kolonialstil der Vierzigerjahre — stand oben auf einem kleinen Hügel, umgeben von alten Eichen und Pappeln sowie den Rhododendronbüschen, die sie vor drei Jahren gepflanzt hatte.
Kaye hatte vom Flughafen aus angerufen und eine Nachricht von Saul abgehört. Er war im Labor eines Kunden in Philadelphia und würde im Laufe des Abends zurückkommen. Jetzt war es sieben, und über Long Island lag prächtiges Zwielicht. Flauschige Wolken lösten sich von einer verschwimmenden Masse aus Unheil verkündendem Grau. Die Stare machten in den Eichen Lärm wie eine Horde Kinder in einem Kindergarten.
Sie schloss die Tür auf, schob ihre Reisetaschen hindurch und tippte ihre Geheimzahl ein, um die Alarmanlage auszuschalten. Im Haus roch es muffig. Gerade hatte sie die Taschen wieder abgesetzt, da stürmte der orange gescheckte Crickson, einer ihrer beiden Kater, aus dem Wohnzimmer in den Flur. Seine Pfoten tappten leise auf dem warmen Teakfußboden. Kaye nahm ihn auf den Arm und kraulte ihn am Hals, woraufhin er schnurrte und leise miaute. Temin, der andere Kater, war nirgendwo zu sehen. Sie nahm an, dass er draußen auf der Pirsch war.
Der Anblick des Wohnzimmers dämpfte ihre Stimmung. Überall war schmutzige Wäsche verstreut. Auf dem Couchtisch und dem Perserteppich vor dem Sofa lagen die leeren Verpackungen von Fertiggerichten. Der Esstisch quoll über von Büchern, Zeitungen und gelben, aus einem alten Telefonbuch herausgerissenen Seiten. Der muffige Gestank kam aus der Küche und stammte von verfaultem Gemüse, abgestandenem Kaffeesatz und Verpackungsresten.
Saul war nicht gut drauf gewesen. Und wie üblich war sie gerade im richtigen Augenblick gekommen, um aufzuräumen.
Kaye öffnete die Eingangstür und alle Fenster.
Sie briet sich ein kleines Steak und machte sich einen grünen Salat mit Dressing aus der Flasche. Als sie einen Pinot Noir entkorkte, entdeckte sie auf der weiß gefliesten Anrichte neben der Espressomaschine einen Briefumschlag. Sie stellte den Wein hin, damit er atmen konnte, und riss das Kuvert auf. Es enthielt eine blumenbedruckte Grußkarte, auf die Saul eine Nachricht gekritzelt hatte:
Kaye,
liebste Kaye, mein Schatz, mein Schatz, es tut mir Leid. Ich habe dich vermisst, und das ist diesmal im ganzen Haus zu sehen. Bitte räum nicht auf. Das lasse ich Caddy morgen machen. Ich bezahle ihr zusätzlich etwas. Ruh dich nur aus. Das Schlafzimmer ist makellos. Wenigstens dafür habe ich gesorgt.
Dein verrückter alter Saul
Kaye klappte die Karte mit unzufrieden gerümpfter Nase zu und starrte auf Anrichte und Schränke. Ihr Blick fiel auf einen ordentlichen Stapel alter Zeitschriften, der seltsamerweise auf dem Hackblock für das Fleisch lag. Als sie die Magazine anhob, fand sie darunter etwa ein Dutzend Computer-Ausdrucke und eine weitere Notiz. Sie schaltete den Herd aus, legte einen Deckel auf die Pfanne, um das Steak warm zu halten, griff nach dem Stapel und las das erste Blatt.
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