Kaye!
Du hast gespinxt! Vielleicht entschuldigt mich dieser Stapel. Äußerst spannend. Ich habe die Sachen von Virion. Ferris und Farmkhan Mkebe am UCI habe ich gefragt, was sie wissen. Sie wollten mir nicht alles sagen, aber ich glaube, sie wissen Bescheid, wie wir vermutet haben. Sie nennen es Scattered Human Endogenous Retrovirus Activation oder kurz SHERVA — Aktivierung verstreuter humaner endogener Retroviren. Die Webseiten geben kaum etwas her, aber das hier ist die Diskussion. Voller Liebe und Bewunderung,
Saul
Kaye wusste nicht genau warum, aber plötzlich musste sie weinen.
Mit Tränen in den Augen blätterte sie die Papiere durch; dann legte sie den Stapel auf das Tablett neben Steak und Salat. Sie trug alles zum Essen ins Wohnzimmer und schaltete den Fernseher ein.
Saul hatte sich vor sechs Jahren eine bestimmte Art transgener Mäuse patentieren lassen und ein kleines Vermögen damit verdient; im folgenden Jahr hatten sie sich kennen gelernt und geheiratet, und Saul hatte sofort den größten Teil des Geldes in EcoBacter gesteckt. Auch Kayes Eltern hatten einen erheblichen Betrag beigesteuert, kurz bevor sie bei einem Autounfall ums Leben kamen. Dreißig Angestellte und fünf Führungskräfte tummelten sich in dem grau-blauen Gebäudequader im Gewerbepark von Long Island, Tür an Tür mit einem halben Dutzend weiterer Biotechnologiefirmen. Der Park war sechs Kilometer von ihrem Haus entfernt.
Bei EcoBacter wurde sie erst morgen Mittag erwartet. Sie hoffte, Saul würde durch irgendetwas aufgehalten werden, sodass sie mehr Zeit für sich hatte, um nachzudenken und sich auf ihn einzustellen, aber dieser Wunsch trieb ihr wieder das Würgen in den Hals.
Sie schüttelte den Kopf vor Abscheu über ihre ungezügelten Ge-fühle und trank den Wein mit tränennassen, salzigen Lippen.
Eigentlich wünschte sie sich nur eines: dass Saul gesund war, dass es ihm besser ging. Sie wollte ihren Mann wiederhaben, den Mann, der ihre Einstellung zum Leben verändert hatte, der ihre Inspiration und ihr Partner war, ein ruhender Pol in einer immer schneller wirbelnden Welt.
Während sie kleine Bissen des Steaks kaute, las sie die Beiträge aus der Diskussionsgruppe »Virion«. Es waren über hundert, ein paar von Wissenschaftlern, die meisten jedoch von Laien und Studenten, die vereinzelte Nachrichten wiederkäuten und Spekulationen anstellten.
Sie verteilte ein wenig Fertigsauce auf dem letzten Stück Fleisch und atmete tief durch.
Das alles konnte wichtig werden. Saul war zu Recht so aufgeregt. Aber man wusste nichts Genaues, und es gab keinerlei Anhaltspunkte, wo die Arbeiten stattgefunden hatten, wo sie veröffentlicht werden sollten oder wer die Informationen durchsickern ließ.
Als sie gerade dabei war, das Tablett in die Küche zurück zu tragen, klingelte das Telefon. Nachdem sie auf den bestrumpften Füßen eine kleine Pirouette vollführt hatte, balancierte sie mit einer Hand das Tablett und nahm mit der anderen den Hörer ab.
»Willkommen zu Hause!«, sagte Saul. Seine tiefe Stimme ließ sie immer noch ein wenig beben. »Meine liebe, weit gereiste Kaye!«
Er wurde kleinlaut. »Bitte entschuldige das Durcheinander. Caddy konnte gestern nicht kommen.« Caddy war ihre Haushälterin.
»Es ist schön, wieder zu Hause zu sein«, sagte sie. »Arbeitest du noch?«
»Ich hänge hier fest und kann nicht weg.«
»Ich habe dich vermisst.«
»Räum’ bloß das Haus nicht auf!«
»Ich hab’ nicht aufgeräumt. Jedenfalls nicht viel.«
»Hast du die Ausdrucke gelesen?«
»Ja. Sie waren auf der Anrichte versteckt.«
»Ich wollte, dass du sie morgen früh beim Kaffee liest, wenn dein Verstand am schärfsten ist. Bis dahin habe ich wahrscheinlich handfestere Informationen. Ich bin morgen früh um elf zurück.
Geh’ nicht sofort ins Labor.«
»Ich warte auf dich«, sagte sie.
»Du klingst müde. Langer Flug?«
»Schreckliche Luft. Ich habe Nasenbluten bekommen.«
»Armes Mädchen«, sagte er. »Mach dir nichts draus. Mir geht’s gut, jetzt wo du da bist. Hat Lado …?« Er hielt mitten im Satz inne.
»Keinerlei Anhaltspunkte«, log Kaye. »Ich habe mir wirklich Mühe gegeben.«
»Ich weiß. Schlaf schön, und morgen bin ich bei dir. Es gibt aufregende Neuigkeiten.«
»Du weißt schon mehr. Sag es mir«, beharrte Kaye.
»Jetzt nicht. Vorfreude ist die schönste Freude.«
Kaye hasste seine Spielchen. »Saul …«
»Da bin ich beinhart. Außerdem habe ich noch nicht alle Bestätigungen, die ich brauche. Ich liebe dich. Du fehlst mir.« Er machte das Geräusch eines Gutenachtkusses, und nach mehrfacher Verabschiedung legten sie gleichzeitig auf — eine alte Gewohnheit.
Saul reagierte empfindlich, wenn er der Letzte in der Leitung war.
Kaye sah sich in der Küche um, nahm einen Lappen und fing an zu putzen. Auf Caddy wollte sie nicht warten. Nachdem sie mit der Ordnung zufrieden war, duschte sie, wusch sich die Haare, wickelte ein Handtuch darum, zog ihren Lieblings-Satinpyjama an und machte sich in dem Kamin oben im Schlafzimmer ein Feuer.
Dann hockte sie sich im Lotussitz auf das Fußende des Bettes, um die beruhigende Wirkung der leuchtenden Flammen und des weichen Satins zu genießen. Draußen frischte der Wind auf, und hinter den gestreiften Gardinen sah sie einen einzelnen Blitz. Das Wetter wurde unfreundlicher.
Kaye legte sich lang und zog die Daunendecke bis unter das Kinn.
»Wenigstens bemitleide ich mich selbst nicht mehr«, sagte sie mit fester Stimme. Crickson kam zu ihr und drapierte seinen flauschigen, orangefarbenen Schwanz quer über das Bett. Auch Temin kam angesprungen, allerdings mit mehr Würde. Er war ein wenig feucht und geruhte, sich mit ihrem Handtuch abrubbeln zu lassen.
Zum ersten Mal seit sie am Kazbeg gewesen war, fühlte sie sich geborgen und ausgeglichen. Armes kleines Mädchen, sagte sie vorwurfsvoll. Wartet, dass ihr Ehemann heimkommt. Wartet, dass ihr wahrer Ehemann heimkommt.
Mark Augustine stand am Fenster seines kleinen Hotelzimmers, einen Gute-Nacht-Bourbon mit Wasser on the Rocks in der Hand, und hörte sich Dickens Bericht an.
Augustine war ein stämmiger, tüchtiger Mann mit fröhlichen braunen Augen, einem kräftigen Kopf mit dichten grauen Haaren, einer kleinen, aber vorstehenden Nase und ausdrucksvollen Lippen. Seine Haut war von einem jahrelangen Aufenthalt in Äquatorialafrika und den Jahren in Atlanta stets sonnengebräunt, die Stimme klang sanft und melodisch. Er war energisch und fantasievoll, als Politiker ebenso begnadet wie als Direktor, und an den CDC hörte man vielfach die Ansicht, er werde als nächster Leiter des staatlichen Gesundheitswesens aufgebaut.
Als Dicken geendet hatte, setzte Augustine das Glas ab. »Sehr-r-r inter-r-r-essant«, sagte er mit einer Stimme wie Artie Johnson.
»Tolle Arbeit, Christopher.«
Christopher lächelte und wartete auf die ausführliche Beurteilung.
»Es passt zu dem meisten, was wir schon wissen. Ich habe mit der Leiterin des Gesundheitswesens gesprochen«, fuhr Augustine fort. »Sie ist der Meinung, wir sollten in kleinen Schritten an die Öffentlichkeit gehen, und zwar sehr bald. Ich denke das auch. Zuerst lassen wir den Wissenschaftlern ihren Spaß. Sie sollen es in ein romantisches Mäntelchen kleiden, Sie wissen schon, winzige Eindringlinge aus dem eigenen Körper, iiih, ist das nicht aufregend, wir wissen noch nicht, was sie anrichten. So etwas. Doel und Davison in Kalifornien können das für uns übernehmen und ihre Entdeckung umreißen. Sie haben genug Arbeit damit gehabt, da verdienen sie sicher ein bisschen Ruhm.« Augustine griff wieder nach dem Whiskyglas und schwenkte Eis und Wasser, sodass es leise klirrte. »Hat Dr. Mahy gesagt, bis wann sie Ihre Proben analysieren können?«
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