Saul hätte hier großen Erfolg gehabt. Einen doppelten Erfolg vielleicht. Alles, was er brauchte, um sich wichtig und nützlich zu fühlen.
Sie wandte sich um. Durch die offene Eingangstür sah sie Tengiz, den gebückten alten Laborhelfer, der mit einem kleinen, untersetzten jungen Mann in grauer Hose und Sweatshirt sprach.
Die beiden standen im Korridor zwischen Labor und Bibliothek.
Der junge Mann sah Kaye an und lächelte. Auch Tengiz machte ein freundliches Gesicht, nickte heftig und deutete auf Kaye. Daraufhin kam der Mann ins Labor geschlendert, als gehörte es ihm.
»Sind Sie Kaye Lang?«, fragte er in amerikanischem Englisch mit unverkennbarem Südstaaten-Zungenschlag. Er war einige Zentimeter kleiner als sie, ungefähr ebenso alt oder ein wenig älter, mit spärlichem schwarzem Bart und schwarzen Locken. Seine Augen, ebenfalls schwarz, wirkten klein und intelligent.
»Ja«, erwiderte sie.
»Freut mich, Sie kennen zu lernen. Christopher Dicken ist mein Name. Ich komme vom Epidemie-Erkennungsdienst der National Centers for Infectious Diseases in Atlanta — weit weg von hier, da Georgia, hier Georgien.«
Kaye lächelte und schüttelte ihm die Hand. »Ich wusste nicht, dass Sie herkommen würden«, sagte sie. »Was macht das NCID, die CDC …«
»Sie waren vor zwei Tagen in der Nähe von Gordi«, unterbrach Dicken.
»Sie haben uns weggejagt.«
»Ich weiß. Ich habe gestern mit Colonel Beck gesprochen.«
»Warum interessiert Sie das?«
»Vielleicht aus unangenehmen Gründen.« Er presste die Lippen zusammen und hob die Augenbrauen, aber dann lächelte er wieder und zuckte die Achseln. »Beck sagt, die UN und alle russischen Friedenstruppen hätten sich aus dem Gebiet zurückgezogen und seien wieder nach Tiflis gefahren, und zwar auf nachdrücklichen Wunsch des Parlaments und des Präsidenten Schewardnadse.
Seltsam, finden Sie nicht?«
»Peinlich fürs Geschäft«, murmelte Kaye. Tengiz hörte vom Korridor aus zu. Sie runzelte die Stirn in seiner Richtung, aber mehr aus Verwunderung denn aus Ärger. Er schlenderte ein Stück weiter.
»Ja«, sagte er. »Alte Probleme. Wie alt, was meinen Sie?«
»Was — das Grab?«
Dicken nickte.
»Fünf Jahre. Vielleicht weniger.«
»Die Frauen waren schwanger.«
»Jaaa …« Sie zog die Antwort in die Länge und versuchte sich auszumalen, warum jemand von den Centers for Disease Control sich dafür interessierte. »Jedenfalls die beiden, die ich gesehen habe.«
»Keine Fehlinterpretation möglich? Säuglinge, die nach der Geburt mit in das Grab gelegt wurden?«
»Nein«, erwiderte sie. »Die waren im sechsten oder siebten Monat.«
»Danke.« Dicken streckte wieder die Hand aus und schüttelte höflich die ihre. Dann drehte er sich um und wollte gehen. Tengiz ging draußen über den Flur und huschte beiseite, als Dicken durch die Tür spazierte. Der Ermittler des Epidemie-Erkennungsdienstes blickte zu Kaye zurück und salutierte kurz.
Tengiz hielt den Kopf schräg und grinste zahnlos. Er sah zutiefst schuldbewusst aus.
Kaye rannte zur Tür. Auf dem Hof hatte sie Dicken eingeholt.
Er stieg gerade in einen kleinen gemieteten Nissan.
»Entschuldigen Sie!« rief sie.
»Tut mir Leid. Muss weg.« Dicken knallte die Tür zu und ließ den Motor an.
»Du lieber Gott, Sie wissen aber, wie man Verdacht sät!« sagte Kaye so laut, dass er es durch das geschlossene Fenster hören konnte.
Dicken kurbelte die Scheibe herunter und schnitt eine liebenswürdige Grimasse. »Was für einen Verdacht?«
»Was um alles in der Welt tun Sie hier?«
»Gerüchte«, sagte er und vergewisserte sich mit einem Blick über die Schulter, ob hinter ihm Platz war. »Mehr kann ich nicht sagen.«
Er wendete den Wagen auf dem Kies und fuhr davon, zwischen dem Hauptgebäude und dem zweiten Labortrakt hindurch. Kaye verschränkte die Arme und sah ihm mit gerunzelter Stirn nach.
Lado beugte sich aus einem Fenster des Hauptgebäudes und rief:
»Kaye! Wir sind so weit. Bist du fertig?«
»Ja!«, erwiderte Kaye und ging zu dem Fenster. »Hast du ihn gesehen?«
»Wen?«, fragte Lado mit verblüffter Miene.
»Einen Mann von den Centers for Disease Control. Er sagt, sein Name sei Dicken.«
»Ich habe niemanden gesehen. Die haben ein Büro in der Abasheli-Straße. Da kannst du ja anrufen.«
Sie schüttelte den Kopf. Sie hatten keine Zeit mehr, und es ging sie ohnehin nichts an. »Spielt keine Rolle«, sagte sie.
Als Lado sie zum Flughafen brachte, war er ungewöhnlich melancholisch.
»Gute oder schlechte Nachrichten?«, fragte sie.
»Das darf ich nicht sagen«, antwortete er. »Wir müssen uns alle Optionen offen halten, wie ihr sagen würdet. Uns geht’s wie kleinen Kindern im großen Wald.«
Kaye nickte und starrte geradeaus, während sie auf den Parkplatz fuhren. Lado half ihr, das Gepäck zu dem neuen internationalen Terminal zu tragen, vorbei an Reihen von Taxis, deren Fahrer mit scharfem Blick ungeduldig warteten. Die Schlange vor dem Abfertigungsschalter der Mediterranean Airlines war kurz.
Schon jetzt hatte Kaye das Gefühl, zwischen den Welten zu stehen, näher an New York als an Lados Georgien, der Gergeti-Kirche oder dem Kazbeg.
Schließlich war sie an der Reihe. Während sie Pass und Tickets herauszog, stand Lado mit verschränkten Armen daneben und blinzelte in das blasse Sonnenlicht, das durch die Fenster der Abflughalle fiel.
Die Schalterbeamtin, eine blonde junge Frau mit gespenstisch weißer Haut, arbeitete sich langsam durch Tickets und Papiere.
Schließlich blickte sie auf und sagte: »Kein Abreisen. Kein Start.«
»Wie bitte?«
Die Frau hob den Blick zur Decke, als könne ihr das Kraft oder Klugheit verleihen, und versuchte es noch einmal.
»Nix Baku. Nix Heathrow. Nix JFK. Nix Wien.«
»Was, alle weg?«, fragte Kaye wütend. Hilflos blickte sie Lado an, der über die kunststoffummantelten Seile stieg und sich in schroffem, tadelndem Ton an die Frau wandte. Dann deutete er auf Kaye und hob die Brauen, als wollte er sagen: Very Important Person!
Die Wangen der blassen jungen Frau nahmen ein wenig Farbe an. Mit unendlicher Geduld richtete sie den Blick auf Kaye und erzählte in schnellem Georgisch etwas von Wetter, Hagel im Anmarsch, ungewöhnlichem Sturm. Lado übersetzte in Abständen einzelne Wörter: Hagel, ungewöhnlich, bald.
»Wann komme ich weg?«, fragte sie die Frau.
Lado hörte sich mit ernster Miene die ausführliche Antwort an, hob dann die Schultern und wandte sich zu Kaye. »Nächste Woche, nächster Flug. Oder der Flug nach Wien, Dienstag. Übermorgen.«
Kaye entschloss sich, nach Wien umzubuchen. Hinter ihr in der Schlange standen jetzt vier Personen, die sowohl Belustigung als auch Ungeduld erkennen ließen. Nach Kleidung und Sprache zu urteilen, wollten sie wohl nicht nach New York oder London.
Lado ging mit ihr die Treppe hinauf und setzte sich in dem widerhallenden Wartebereich ihr gegenüber. Sie musste nachdenken, ihre Pläne ordnen. Am Rand der Halle verkauften ein paar alte Frauen an ihren Ständen westliche Zigaretten, Parfüm und japanische Armbanduhren. In ihrer Nähe, auf zwei gegenüber stehenden Bänken, schliefen zwei junge Männer und schnarchten im Duett.
An den Wänden hingen Plakate auf Russisch, in der freundlichverschnörkelten georgischen Schrift, auf Deutsch und Französisch: Schlösser, Teeplantagen, Weinflaschen und die plötzlich ganz kleinen, weit entfernten Berge, deren reinen Farben sogar das Neonlicht nichts anhaben konnte.
»Ich weiß, du musst deinen Mann anrufen, er wird dich vermissen«, sagte Lado. »Wir können wieder zum Institut fahren — du bist uns jederzeit willkommen!«
»Nein danke«, sagte Kaye, und plötzlich war ihr ein wenig übel.
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