Die Arglosigkeit von Tieren; das unerforschte Leben ist am schönsten. Aber dann geht etwas schief und gibt den Anlass zu Nabelschau und Untersuchungen. Die Wurzel allen Bewusstseins.
»Träumen Sie?« fragte Beck, als sie an einer kleinen, aus verrostetem Blech zusammengeflickten Tankstelle und Autowerkstatt vorüberkamen.
»Albträume«, sagte Kaye. »Ich glaube, ich stecke zu tief in meiner Arbeit.«
Mitch sah, wie die blaue Sonne wanderte und sich verdunkelte. Er dachte, es müsse wohl Nacht sein, aber die Luft war dämmriggrün und überhaupt nicht kalt. Er spürte einen stechenden Schmerz im Oberschenkel und ein allgemeines Unwohlsein im Magen.
Er war nicht mehr auf dem Berg. Um die klebrige Masse aus den Augen zu bekommen, wollte er nach oben langen und sich über das Gesicht reiben. Eine Hand hinderte ihn daran, und eine leise Frauenstimme sagte auf Deutsch, er solle ein braver Junge sein. Als die Frau ihm mit einem kalten, feuchten Tuch die Stirn abwischte, erklärte sie auf Englisch, er sei ein bisschen mitgenommen, Nase und Finger hätten Erfrierungen, und ein Bein sei gebrochen. Ein paar Minuten später schlief er wieder ein.
Scheinbar im nächsten Augenblick wachte er auf, und dieses Mal schaffte er es, sich in dem ordentlichen, soliden Krankenhausbett aufzusetzen. Er lag in einem Zimmer mit vier anderen Patienten, zwei neben ihm und zwei gegenüber, alles Männer und alle noch keine vierzig Jahre alt. Bei zweien steckten die gebrochenen Beine in Schlingen wie in einer Comedysendung, die beiden anderen hatten sich den Arm gebrochen. Mitchs Bein war eingegipst, lag aber nicht in einer Schlinge.
Die Männer waren alle blauäugig und sahen mit ihren dünnen Hälsen und langen Kinnpartien ansehnlich und wie Adler aus. Sie musterten ihn aufmerksam.
Jetzt konnte Mitch das Zimmer deutlich erkennen: gestrichene Betonwände, weiß emaillierte Bettgestelle, an einem verchromten Ständer eine tragbare Lampe, die er fälschlich für die Sonne gehalten hatte, ein gescheckter brauner Fliesenfußboden, der dumpfe Geruch von Sterilisationsdampf und Desinfektionsmitteln, ein allgemeiner Duft nach Pfefferminz.
Rechts von Mitch beugte sich ein Mann mit starkem Gletscherbrand, dessen Haut sich von den babyrosa Wangen schälte, zu ihm hinüber und sagte: »Sie sind der Amerikaner, der Glück gehabt hat, stimmt’s?« Die Rollen und Gewichte an seinem hochgezogenen Bein quietschten.
»Ich bin Amerikaner« krächzte Mitch, »und Glück habe ich wohl auch gehabt, denn ich bin nicht tot.«
Die Männer tauschten ernste Blicke aus. Mitch wurde klar, dass er schon seit einiger Zeit das Gesprächsthema war.
»Wir sind uns alle einig, dass es am besten ist, wenn Bergsteigerkameraden es Ihnen sagen.«
Bevor Mitch einwenden konnte, er sei eigentlich kein Bergsteiger, berichtete ihm der junge Mann mit dem Gletscherbrand, seine beiden Begleiter seien tot. »Der Italiener, mit dem Sie in der Gletscherspalte gefunden wurden, hat sich den Hals gebrochen.
Die Frau wurde viel weiter unten unter dem Eis entdeckt.«
Und dann, mit energisch forschendem Blick-Augen in der Farbe jenes Himmels, der Mitch an die Farbe trüber, irrer Hundeaugen erinnert hatte — fragte der junge Mann: »Es steht in der Zeitung, es kommt im Fernsehen. Woher hatte sie die kleine Babyleiche?«
Mitch musste husten. Er sah auf dem Tisch neben seinem Bett einen Krug mit Wasser stehen und goss sich ein Glas ein. Die Bergsteiger beobachteten ihn wie athletische, an ihre Betten gefesselte Kobolde.
Mitch erwiderte ihren Blick. Er versuchte, sein Entsetzen zu verbergen. Es tat ihm nicht gut, Tilde jetzt zu verurteilen; überhaupt nicht gut.
Gegen Mittag kam der Inspektor zusammen mit einem Beamten der örtlichen Polizei; er setzte sich neben das Bett und begann Fragen zu stellen. Der andere Polizist, der besser englisch sprach, dolmetschte. Die Fragen, so der Inspektor, seien reine Routine und gehörten zu den Unfallermittlungen. Mitch sagte, er wisse nicht, wer die Frau sei, aber darauf erwiderte der Inspektor nach einer angemessenen Pause, sie seien alle drei gemeinsam in Salzburg gesehen worden. »Sie, Franco Maricelli und Mathilda Berger.«
»Sie war Francos Freundin«, sagte er. Ihm war übel, aber er wollte es nicht zeigen. Der Inspektor seufzte und verzog missbilligend die Lippen, als sei eigentlich alles ganz einfach und nur ein wenig lästig.
»Sie hatte die Mumie eines Kindes bei sich. Möglicherweise eine sehr alte Mumie. Haben Sie eine Ahnung, woher sie die hatte?«
Er hoffte, dass die Polizei nicht seine Habseligkeiten durchsucht, die Gefäße gefunden und deren Inhalt identifiziert hatte. Vielleicht hatte er den Rucksack auf dem Gletscher verloren. »Es ist so seltsam, dass man es nicht in Worte fassen kann«, sagte er.
Der Inspektor zuckte die Schultern. »Ich bin kein Fachmann für Leichen im Eis. Mitchell, ich gebe Ihnen einen väterlichen Rat.
Dazu bin ich doch alt genug?«
Mitch räumte ein, der Inspektor könne alt genug sein. Die Bergsteiger gaben sich keine Mühe, ihre Neugier zu verbergen.
»Wir haben mit Ihrem früheren Arbeitgeber gesprochen, dem Hayer-Museum in Seattle.«
Mitch blinzelte langsam.
»Die haben uns erzählt, dass Sie am Diebstahl von Altertümern beteiligt waren, die der amerikanischen Bundesregierung gestohlen wurden. Skelettreste eines Indianers, des Pasco-Menschen, sehr alt. Zehntausend Jahre, entdeckt am Ufer des Columbia River. Sie haben sich geweigert, die Funde dem Army Corpse of Engineers zu übergeben.«
»Corps«, sagte Mitch leise.
»Deshalb wurden Sie nach dem Altertümergesetz festgenommen, und das Museum warf Sie hinaus, weil das Ganze an die Öffentlichkeit kam.«
»Die Indianer haben behauptet, die Knochen gehörten einem Vorfahren«, sagte Mitch, das Gesicht vor Ärger über die Erinnerung gerötet. »Sie wollten sie noch einmal bestatten.«
Der Inspektor las aus seinen Notizen vor. »Ihnen wurde der Zutritt zu den Museumssammlungen verweigert, und die Knochen wurden in Ihrer Wohnung beschlagnahmt. Mit vielen Fotos und noch mehr Öffentlichkeit.«
»Das war juristischer Mist! Das Army Corps of Engineers hatte kein Recht auf diese Knochen. Sie waren von unschätzbarem wissenschaftlichem Wert …«
»Wie das mumifizierte Baby aus dem Eis vielleicht?«, fragte der Inspektor.
Mitch schloss die Augen und wandte sich ab. Jetzt erkannte er alles ganz deutlich. Dumm ist nicht das richtige Wort. Das ist schlicht und einfach Schicksal.
»Müssen Sie sich übergeben?«, fragte der Inspektor und trat zurück.
Mitch schüttelte den Kopf.
»Was wir schon wissen — Sie wurden mit der Frau in der Braunschweiger Hütte gesehen, keine zehn Kilometer von der Stelle, wo man Sie gefunden hat. Eine auffällige Frau, gut aussehend und blond, sagen die Zeugen.«
Die Bergsteiger nickten, als wären sie dabei gewesen.
»Am besten erzählen Sie uns alles, und zwar uns als ersten. Ich benachrichtige dann die italienische Polizei, und die Polizei hier in Österreich wird Sie verhören. Vielleicht ist ja alles harmlos.«
»Es waren Bekannte«, sagte er. »Sie war meine Freundin — früher. Ich meine, wir hatten ein Verhältnis.«
»Aha. Warum ist sie zu Ihnen zurückgekehrt?«
»Sie hatten etwas gefunden. Sie dachte, ich könnte ihnen vielleicht sagen, was sie da entdeckt hatten.«
»Ja?«
Mitch wurde klar, dass er keine Wahl hatte. Er trank noch ein Glas Wasser und berichtete dem Inspektor fast alles, was sich abgespielt hatte, und das so genau und klar, wie es ihm möglich war.
Von den Gefäßen hatten sie nichts gesagt, also erwähnte er sie ebenfalls nicht. Der Polizist machte sich Notizen und nahm sein Geständnis mit einem kleinen Tonbandgerät auf.
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