Als er geendet hatte, sagte der Inspektor: »Irgendjemand wird sicher wissen wollen, wo die Höhle liegt.«
»Tilde — Mathilda hatte eine Kamera«, sagte Mitch matt. »Sie hat Fotos gemacht.«
»Wir haben keine Kamera gefunden. Es wäre viel einfacher für Sie, wenn Sie wüssten, wo die Höhle liegt. So ein Fund … sehr aufregend.«
»Sie haben doch schon das Baby«, sagte Mitch. »Das müsste eigentlich aufregend genug sein. Ein Neandertalersäugling.«
Der Inspektor sah ihn zweifelnd an. »Von Neandertalern spricht niemand. Ist das alles vielleicht eine Sinnestäuschung oder ein Witz?«
Mitch hatte längst alles verloren, was ihm wichtig war — seine Karriere, seinen Ruf als Paläontologe. Wieder einmal hatte er alles großartig vermasselt. »Vielleicht waren es die Kopfschmerzen. Ich bin einfach fertig. Natürlich helfe ich, die Höhle zu finden«, sagte er.
»Dann ist es kein Verbrechen, sondern nur eine Tragödie.« Der Inspektor erhob sich und wollte gehen. Der Polizist tippte sich zum Abschied an die Mütze.
Als sie weg waren, sagte der Bergsteiger mit den Schälwangen:
»Sie fahren noch nicht so bald nach Hause.«
»Die Berge wollen Sie wiederhaben«, meinte der Zimmergenosse mit dem geringsten Sonnenbrand, der Mitch gegenüber lag. Dazu nickte er viel sagend, als hätte er nun alles erklärt.
»Blödmann«, murmelte Mitch und drehte sich in dem adretten weißen Bett um.
6
Eliava-lnstitut, Tiflis
Lado, Tamara und Zamphyra standen mit sieben anderen Wissenschaftlern und Studenten um die beiden großen Tische am Südende des Labortraktes. Alle hoben die Cognacschwenker und tranken auf Kaye. Kerzen flackerten und spiegelten sich als goldene Funken in den bernsteinfarben gefüllten Gläsern. Das Festessen war erst zur Hälfte vorüber, und es war schon das achte Mal, dass Lado als tamada oder Zeremonienmeister des Abends einen Toast ausbrachte. »Auf unser Schätzchen Kaye«, sagte er, »die unsere Arbeit zu würdigen weiß … und versprochen hat, uns reich zu machen.«
Aus den Käfigen hinter dem Tisch sahen Kaninchen, Mäuse und Hühner mit schläfrigem Blick zu. Lange schwarze Labortische voller Glasgeräte und Reagenzglasgestelle, Brutschränke und Computer, die mit Sequenzierapparaten und Analyseautomaten verbunden waren, verloren sich im Dunkel des unbeleuchteten hinteren Laborteils.
»Auf Kaye«, fügte Tamara hinzu, »die von Sakartvelo, von Georgien mehr gesehen hat … als uns lieb sein kann. Auf eine tapfere, verständnisvolle Frau.«
»Seit wann bringst du hier die Trinksprüche aus?«, fragte Lado gereizt. »Warum erinnerst du uns an unangenehme Sachen?«
»Und warum redest du bei einer solchen Gelegenheit von Reichtum, von Geld ?«, blaffte Tamara zurück.
»Ich bin hier der tamada !«, brüllte Lado. Er stand jetzt neben dem Klapptisch aus Eichenholz und schwenkte sein Glas mit der schwappenden Flüssigkeit in Richtung der Studenten und Wissenschaftler. Keiner von ihnen durchbrach das matte Lächeln mit einem Wort des Widerspruchs.
»Schon gut«, lenkte Tamara ein. »Dein Wunsch ist uns Befehl.«
»Sie haben keinen Respekt!« beklagte sich Lado bei Tamara.
»Zerstört Wohlstand die Tradition?«
Die Labortische bildeten aus Kayes engem Blickwinkel ein schmales V. Alle Apparaturen hingen an einem Generator, der in dem Hof neben dem Gebäude leise brummte. Saul hatte zwei Sequenzierautomaten und einen Computer beigesteuert; der Generator stammte von Aventis, einem großen, internationalen Konzern.
Die städtische Stromversorgung war in Tiflis seit dem späten Nachmittag abgeschaltet. Das Abschiedsessen hatten sie auf Bunsenbrennern und in einem Gasofen gekocht.
»Mach weiter, Zeremonienmeister«, sagte Tamara mit sanfter Resignation. Sie winkte mit den Fingern in Lados Richtung.
»Das mache ich auch.« Lado stellte das Glas ab und strich sich den Anzug glatt. Sein dunkles, faltiges Gesicht, rot wie eine Rübe mit Gletscherbrand, leuchtete im Kerzenlicht wie Edelholz. Er erinnerte Kaye an einen Spielzeugtroll, den sie als Kind sehr geliebt hatte. Aus einer unter dem Tisch versteckten Schachtel brachte er ein kleines, kunstvoll geschliffenes und facettiertes Kristallglas zum Vorschein. Er nahm ein schönes, in Silber gefasstes Steinbockhorn und ging zu einer großen Amphore, die hinter der Ecke des Tisches in einer großen Holzkiste steckte. Die Amphore, die er kürzlich aus der Erde seines eigenen kleinen Weinberges bei Tiflis geborgen hatte, war mit einer ziemlich gewaltigen Weinmenge gefüllt. Er nahm eine Schöpfkelle voll aus der Öffnung und füllte den Inhalt langsam in das Horn, dann wieder und wieder, insgesamt sieben Mal, bis das Horn voll war. Dabei ließ er den Wein sanft kreisen, damit er atmen konnte. Rote Flüssigkeit spritzte über sein Handgelenk.
Schließlich füllte er das Glas aus dem Horn bis zum Rand und gab es Kaye. »Wenn du ein Mann wärst, würde ich dich auffordern, das ganze Horn zu leeren und dabei einen Trinkspruch auszubringen«, sagte er.
»Lado!« heulte Tamara und gab ihm einen Klaps auf den Arm.
Er ließ fast das Horn fallen und wandte sich ihr in gespielter Überraschung zu.
»Was ist denn?«, fragte er. »Gefällt dir das Glas nicht?«
Zamphyra erhob sich und drohte ihm mit erhobenem Finger.
Lado grinste noch breiter und verwandelte sich von einem Troll in einen karmesinroten Satyr. Langsam drehte er sich zu Kaye. »Was soll ich machen, liebste Kaye?«, sagte er geziert. Wieder tropfte Wein aus dem oberen Ende des Horns. »Sie verlangen, dass du alles austrinkst.«
Kaye hatte bereits ihr Quantum Alkohol genossen und traute ihrem eigenen Stehvermögen nicht mehr. Sie fühlte sich köstlich warm und geborgen, unter Freunden und umgeben von einer urtümlichen Dunkelheit voll Bernstein und goldener Sterne.
Die Gräber, Saul und die Schwierigkeiten, die in New York auf sie warteten, hatte sie fast vergessen.
Sie streckte die Hände aus, und mit überraschender Anmut, die seine Unbeholfenheit von eben Lügen strafte, tänzelte Lado vorwärts. Ohne einen Tropfen zu verschütten, gab er ihr das Steinbockhorn in die Hände. »Jetzt bist du dran«, sagte er.
Kaye wusste, was von ihr erwartet wurde. Feierlich erhob sie sich. Lado hatte an diesem Abend schon viele Trinksprüche ausgebracht, die sich poetisch und mit unbegrenztem Erfindungsreichtum minutenlang hinzogen. Dass sie mit seiner Beredsamkeit mithalten konnte, bezweifelte sie, aber sie wollte sich Mühe geben, und sie hatte vieles zu sagen, Dinge, die ihr in den zwei Tagen seit ihrer Rückkehr vom Kazbeg ständig im Kopf herumgegangen waren.
»Kein Land auf Erden kommt der Heimat des Weines gleich«, setzte sie an und hielt das Horn in die Höhe. Alle lächelten und hoben die Gläser. »Kein Land bietet mehr Schönheit und verspricht so viel jenen, die krank im Herzen oder am Körper sind.
Ihr habt den Nektar des jungen Weines destilliert, um Verwesung und Krankheit zu verbannen, welche dem Fleisch zugedacht sind.
Ihr habt Tradition und Wissen aus siebzig Jahren bewahrt und für das einundzwanzigste Jahrhundert gerettet. Ihr seid die Magier und Alchemisten des Mikroskopzeitalters, und nun vereinigt ihr euch mit den Entdeckern des Westens, mit denen ihr einen gewaltigen Schatz zu teilen habt.«
Tamara übersetzte laut flüsternd für die Studenten und Wissenschaftler, die sich um den Tisch drängten.
»Es ist mir eine Ehre, hier als Freundin und Kollegin aufgenommen zu werden. Ihr habt mich an diesem Schatz teilhaben lassen, und am Schatz von Sakartvelo — an Bergen, Gastfreundschaft, Geschichte und, auf keinen Fall zu vergessen, am Wein.«
Sie hob mit einer Hand das Horn und sagte: »Gaumarjos phage!«
Das letzte Wort sprach sie georgisch aus: Phagä. »Gaumarjos Sakartvelos!«
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