Kommen Sie darüber hinweg. Gehen Sie an die Arbeit. Und denken Sie immer daran: Sie arbeiten für Gott.«
»Er ist durch seinen Glauben bei Verstand geblieben«, sagte Kaye.
»Und Sie? Warum haben Sie die Fachrichtung gewechselt?«
»Ich war nicht gläubig«, erwiderte sie.
Beck nickte und drückte die Hände auf die Stuhllehne. »Kein Schutzpanzer. Nun ja, tun Sie, was Sie können. Im Augenblick haben wir niemanden außer Ihnen.« Er sagte gute Nacht, ging zu der engen Treppe und stieg mit schnellen, leichten Schritten hinauf.
Kaye blieb noch ein paar Minuten am Tisch sitzen und trat dann durch den Haupteingang des Gasthofes. Sie stand auf der schmalen Stufe aus Granitplatten neben dem Kopfsteinpflaster der Straße und sog die Nachtluft mit ihrem schwachen Abwassergeruch ein. Über dem Dachfirst des Hauses gegenüber sah sie den schneebedeckten Bergkamm so deutlich, als brauchte sie nur den Arm auszustrecken, um ihn zu berühren.
Am Morgen erwachte sie eingehüllt in warme Laken und eine Decke, die schon seit einiger Zeit nicht mehr gereinigt worden war. Sie starrte ein auf paar vereinzelte Haare — ihre waren es nicht —, die sich in der dicken grauen Wolle nicht weit von ihrem Gesicht verfangen hatten. Das schmale Holzbett mit seinen geschnitzten, rot lackierten Pfosten stand in einem Zimmer mit roh verputzten Wänden, das etwa zweieinhalb Meter breit und drei Meter lang war. Ein einziges Fenster über dem Bett, ein einziger hölzerner Stuhl, ein einfacher Eichentisch mit einer Waschschüssel. In Tiflis gab es moderne Hotels, aber Gordi lag abseits der neuen Touristenrouten, zu weit weg von der Militärstraße.
Sie glitt aus dem Bett, schüttete sich Wasser ins Gesicht und zog dann Jeans, Bluse und Mantel an. Gerade als sie nach der eisernen Türklinke griff, hörte sie ein kräftiges Klopfen. Beck rief ihren Namen. Sie öffnete die Tür und sah ihn verschlafen an.
»Sie werfen uns aus der Stadt«, sagte er mit unbewegtem Gesicht. »Sie wollen, dass wir alle morgen wieder in Tiflis sind.«
»Warum?«
»Wir sind nicht erwünscht. Soldaten der regulären Armee sind hier und sollen uns eskortieren. Ich habe ihnen gesagt, dass Sie nicht zum Team gehören, sondern eine private Beraterin sind. Aber das kümmert sie nicht.«
»Du lieber Gott«, sagte Kaye. »Wieso diese Kehrtwendung?«
Beck machte ein angewidertes Gesicht. »Das sakrebulo , der Gemeinderat, nehme ich an. Nervös wegen ihrer hübschen kleinen Gemeinde. Oder vielleicht kommt es auch von weiter oben.«
»Klingt nicht gerade nach dem neuen Georgien«, meinte Kaye.
Sie fragte sich, wie sich so etwas auf ihre Zusammenarbeit mit dem Institut auswirken würde.
»Ich bin auch überrascht«, erwiderte Beck. »Wir sind irgendjemandem auf den Schlips getreten. Bitte packen Sie Ihren Koffer und kommen Sie zu uns nach unten.«
Er wandte sich um und wollte gehen, aber Kaye griff nach seinem Arm. »Funktioniert das Telefon?«
»Ich weiß es nicht«, sagte er, »aber Sie können gern eines von unseren Satellitentelefonen benutzen.«
»Danke. Und — Dr. Jakeli ist jetzt wieder in Tiflis. Ich würde ihn nicht gern bitten, noch einmal hierher zu fahren.«
»Wir nehmen Sie nach Tiflis mit«, sagte Beck. »Falls Sie dorthin wollen.«
»Das wäre großartig«, antwortete Kaye.
Die weißen Geländewagen der UN leuchteten vor dem Gasthof in der Sonne. Kaye betrachtete sie durch die Fenster der Eingangshalle und wartete, dass die Wirtin ihr ein altmodisches schwarzes Telefon mit Wählscheibe brachte und in die Dose an der Rezeption einstöpselte. Die Frau nahm den Hörer ab, hielt ihn ans Ohr und gab ihn dann Kaye: tot. In ein paar Jahren würde Georgien auf dem Stand des einundzwanzigsten Jahrhunderts sein. Aber im Augenblick gab es noch nicht einmal hundert Leitungen in die Außenwelt, und da alle Gespräche über Tiflis liefen, klappte es nur selten mit der Verbindung.
Die Wirtin lächelte nervös. Sie war nervös, seit sie angekommen waren.
Kaye brachte ihre Reisetasche nach draußen. Das UN-Team, sechs Männer und drei Frauen, war versammelt. Kay stand neben einer Kanadierin namens Doyle, als Hunter das Satellitentelefon brachte.
Als Erstes rief Kaye in Tiflis bei Tamara Mirianishvili an, ihrer wichtigsten Kontaktperson am Institut. Nach mehreren Versuchen kam die Verbindung zustande. Tamara war verständnisvoll und wunderte sich über das ganze Durcheinander; dann sagte sie, Kaye könne sehr gern zurückkommen und noch ein paar Tage bleiben. »Es ist eine Schande, dass sie dich so auflaufen lassen. Wir machen uns ein paar schöne Tage und muntern dich auf«, sagte Tamara.
»Hat Saul angerufen?« fragte Kaye.
»Zwei Mal«, erwiderte Tamara. »Er sagt, du sollst mehr Fragen über Biofilme stellen. Wie arbeiten Phagen in Biofilmen, wo die Bakterien alle eine Gemeinschaft bilden?«
»Und werdet ihr es uns sagen?« scherzte Kaye.
Tamara ließ ein helles, warmes Lachen hören. »Müssen wir euch alle Geheimnisse verraten? Wir haben noch keine Verträge, meine liebe Kaye!«
»Saul hat Recht. Es könnte ein großes Thema werden«, sagte Kaye. Selbst in den schlimmsten Augenblicken war Saul wissenschaftlich und beruflich auf dem richtigen Gleis.
»Komm zurück, dann zeige ich dir etwas von unserer Biofilm-Forschung, extra für dich, einfach weil du eine nette Frau bist«, lachte Tamara.
»Großartig.«
Kaye bedankte sich bei Tamara und gab Hunter das Telefon zurück.
Ein georgischer Dienstwagen, ein alter Wolga, rollte heran, und auf der linken Seite stiegen sieben Soldaten aus. Rechts kam Major Chikurishvili heraus, das Gesicht aufgebrachter denn je. Er sah aus, als könne er jeden Augenblick in einer Wolke aus Blut und Spucke explodieren.
Ein junger Offizier — Kaye hatte keine Ahnung, welcher Dienstrang — kam zu Beck und sprach ihn in gebrochenem Russisch an. Als sie fertig waren, winkte Beck, und das UN-Team stieg in die Jeeps. Kaye fuhr im gleichen Wagen wie Beck.
Als sie Gordi in westlicher Richtung verließen, versammelten sich ein paar Stadtbewohner und sahen ihrer Abreise zu. Ein kleines Mädchen stand vor einer verputzten Steinmauer und winkte: braune Haare, hellbraunes Gesicht, graue Augen, kräftig und hübsch. Ein ganz normales, entzückendes Mädchen.
Sie sprachen wenig im Führungsfahrzeug der kleinen Karawane, das Hunter auf der Landstraße nach Süden steuerte. Der hart gefederte Jeep holperte über Unebenheiten, rumpelte in Furchen und wich Schlaglöchern aus. Kaye saß auf dem rechten Rücksitz und hatte das Gefühl, sie könne reisekrank werden. Das Radio spielte Popmelodien aus Alania, einen recht guten Blues aus Aserbeidschan und dann ein unverständliches Gespräch, das Beck hin und wieder ganz lustig fand. Er wandte sich zu Kaye um, und sie versuchte tapfer zu lächeln.
Nach ein paar Stunden döste sie ein und träumte von Bakterien, die sich im Inneren der Leichen aus den Massengräbern ansammelten. Biofilme — die meisten Leute würden »Schleim« sagen: kleine, geschäftige Bakterienstädte, die diese Leichen, diese einst riesengroßen Hervorbringungen der Evolution, wieder in ihr Ausgangsmaterial zerlegen. Wunderhübsche Polysaccharidgebäude, aufgebaut in den inneren Kanälen, in Darm und Lunge, Herz und Arterien, Augen und Gehirn; Bakterien, die ihr wildes Leben aufgeben, zu Bürgern werden und alles wieder verwerten; große Abfallaufbereitungsstädte aus Bakterien, in fröhlicher Unkenntnis über Philosophie, Geschichte und Charakter der toten Körper, die sie jetzt wieder für sich vereinnahmen.
Bakterien haben uns gemacht. Sie holen uns am Ende wieder. Willkommen zu Hause.
Schweißgebadet wachte sie auf. Sie fuhren in ein langes, tiefes Tal hinunter, und es wurde wärmer. Wie schön wäre es, wenn man nichts über die ganzen Vorgänge in unserem Inneren wüsste.
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