»Früher habe ich das gemacht.« Sie machte eine Faust und hielt sie empor.
»Eines Tages wird Vlad dir einen neuen Finger wachsen lassen«, versicherte er, nahm ihre Faust und öffnete sie. Dann hielt er die Hand fest, während sie weitergingen. Er sagte: »Das erinnert mich an das Arboretum in Sevastopol.«
»Mmm«, machte Nadia. Sie hörte nicht richtig hin und achtete auf den warmen Druck seiner Hand in der ihren und ihre eng verschlungenen Finger. Auch er hatte starke Hände. Sie war einundfünfzig Jahre alt, eine rundliche kleine russische Frau mit grauem Haar, eine Bauarbeiterin mit einem fehlenden Finger. So schön, die Wärme eines anderen Körpers zu fühlen. Das war so lange her, und ihre Hand sog das Gefühl auf wie ein Schwamm, bis das arme Ding voll und warm kribbelte. Es musste ihm merkwürdig vorkommen, dachte sie. Dann gab sie es auf und sagte: »Ich freue mich, dass du hier bist.«
Die Anwesenheit von Arkady in Underhill war wie die Stunde vor einem Gewitter. Er veranlasste die Leute, über das, was sie taten, nachzudenken. Gewohnheiten, in die sie unbedacht verfallen waren, wurden kritisch betrachtet. Unter diesem neuen Druck wurden manche depressiv und manche aggressiv. Alle laufenden Diskussionen wurden etwas heftiger. Natürlich gehörte die Debatte um das Terraformen dazu.
Jetzt war diese Debatte keineswegs ein Einzelfall, sondern vielmehr ein anhaltender Prozess, ein Thema, das immer wieder auftauchte, eine Sache beiläufiger Gespräche zwischen Einzelpersonen draußen bei der Arbeit, beim Essen und Einschlafen. Alles mögliche konnte es zur Sprache bringen: Der Anblick der weißen Reiffahne über Tschernobyl, die Ankunft eines von Robotern gefahrenen Rovers, beladen mit Wassereis aus der Polstation, Wolken am Dämmerungshimmel. Manch einer, der diese oder andere Phänomene sah, sagte: »Das alles wird einige Wärmeeinheiten für das System bringen«, oder: »Ist dies Hexafluoräthan nicht ein gutes Gas für Gewächshäuser?« Vielleicht folgte dann eine Diskussion über die technischen Aspekte dieses Problems. Manchmal kam das Thema abends wieder in Underhill zur Sprache und führte vom Technischen ins Philosophische und mitunter zu langen hitzigen Diskussionen.
Natürlich beschränkte sich die Debatte nicht auf den Mars. Positionspapiere wurden ausgefertigt von politischen Zentren in Houston, Baikonur, Moskau, Washington und dem UN-Amt für Marsfragen in New York, sowie in Regierungsbüros, Zeitungsredaktionen, Körperschaftsgremien, Universitätsinstituten und Bars und Wohnungen in der ganzen Welt. Bei den Diskussionen auf der Erde fingen viele Leute an, die Namen der Kolonisten als eine Art von Kürzeln für die unterschiedlichen Positionen zu verwenden, so dass die Kolonisten selbst, wenn sie die Nachrichten von der Erde verfolgten, sahen, dass Leute sagten, sie wären für die Clayborne-Position ,oder unterstützten das Russell-Programm. Diese Erinnerung an ihren enormen Ruhm auf der Erde, ihre Existenz als Personen in einem laufenden TV-Drama war immer wieder spaßig und aufregend. Nach der Flut von Sondersendungen und Interviews, die der Landung gefolgt waren, hatten sie dazu geneigt, die ständigen Fernsehübertragungen zu vergessen, absorbiert von der täglichen Realität ihres Lebens. Aber die Videokameras lieferten immer noch Berichte nach Hause; und es gab eine Menge Leute auf der Erde, die diese Shows liebten.
So hatte fast jeder seine Meinung. Abstimmungen zeigten, dass die meisten für das Russell-Programm waren — ein inoffizieller Name für die Pläne von Sax, den Planeten so schnell wie möglich mit allen denkbaren Mitteln zu terraformen. Aber die Minorität, die hinter Anns Haltung, die Finger davon zu lassen, stand, vertrat ihre Ansicht heftiger und behauptete, dass diese Frage unmittelbaren Einfluss auf die Antarktis-Politik und überhaupt alle Umweltmaßnahmen auf der Erde hätte. Inzwischen zeigten verschiedene in den Abstimmungen gestellte Fragen, dass viele Leute von Hiroko und dem Farmprojekt fasziniert waren, während andere sich Bogdanovisten nannten. Arkady hatte nämlich von Phobos eine Menge Videos geschickt; und Phobos war gut im Fernsehen, ein wahres Beispiel von Architektur und Ingenieurskunst. Neue Hotels und kommerzielle Zentren auf der Erde ahmten schon manche seiner Züge nach. Es gab in der Architektur eine Bewegung namens Bogdanovismus, während andere an ihm interessierte Bewegungen sich mehr auf soziale und ökonomische Reformen der Weltordnung konzentrierten.
Aber das Terraformen stand immer dicht beim Zentrum all dieser Debatten, und die Meinungsverschiedenheiten der Kolonisten darüber wurden auf der größten möglichen öffentlichen Bühne ausgetragen. Manche reagierten, indem sie Kameras vermieden und Bitten um Interviews verweigerten. »Davon komme ich gerade her«, sagte Hirokos Assistent Iwao, und recht viele pflichteten ihm bei. Die meisten übrigen kümmerten sich nicht um die eine oder die andere Richtung. Manchen schien es aber zu gefallen. Zum Beispiel wurde das wöchentliche Programm von Phyllis durch beide christlichen Kabelstationen und Programme über Geschäftsanalyse in der ganzen Welt gesendet. Aber ganz gleich, wie man damit umging, es wurde deutlich, dass die meisten Leute auf der Erde und dem Mars annahmen, dass es zum Terraformen kommen würde. Es war keine Frage des Ob, sondern des Wann und Wie viel. Unter den Kolonisten selber war das fast die allgemeine Ansicht. Sehr wenige hielten es mit Arm: Natürlich Simon, vielleicht Ursula und Sasha, vielleicht Hiroko, auf seine Weise John und jetzt auf ihre Weise Nadia. Auf der Erde gab es mehr dieser ›Roten‹; aber sie hielten ihre Stellung notwendigerweise für eine Theorie, ein ästhetisches Urteil. Der stärkste Punkt zu ihren Gunsten, und damit auch der von Ann am häufigsten in ihren Verlautbarungen für die Erde vertretene, war die Möglichkeit einheimisch entstandenen Lebens. Ann pflegte zu sagen: »Wenn es hier auf dem Mars Leben gibt, könnte die radikale Veränderung es töten. Wir können uns nicht einmischen, solange der Status von Leben auf dem Mars unbekannt ist. Das wäre unwissenschaftlich und — noch schlimmer — unmoralisch.«
Viele stimmten dem zu, einschließlich einer Menge in der wissenschaftlichen Gemeinschaft auf der Erde, die das Mars-Komitee der UN beeinflusste, welches die Kolonie beaufsichtigte. Aber jedes Mal, wenn Sax dieses Argument hörte, konterte er sofort: »Es gibt kein Anzeichen von Leben auf der Oberfläche in der Vergangenheit oder Gegenwart«, sagte er sanft. »Falls es existiert, muss es unterirdisch sein, vermutlich in der Nähe vulkanischer Schlote. Aber selbst wenn es da unten Leben gibt, könnten wir zehntausend Jahre danach suchen und es nie finden, noch auch die Möglichkeit eliminieren, dass es sich da irgendwo anders befindet, irgendwo, wohin wir nicht geschaut haben. Also bedeutet das Warten, bis wir sicher wissen, dass es kein Leben gibt …« — was unter Gemäßigten eine recht verbreitete Meinung war —, »bedeutet praktisch Warten für immer. Auf eine entfernte Möglichkeit, die durch das Terraformen in keiner Weise unmittelbar gefährdet werden würde.«
»Natürlich würde sie das«, widersprach Ann. »Vielleicht nicht unmittelbar, aber schließlich würde der Permafrost schmelzen, es würde Bewegung durch die Hydrosphäre geben und deren totale Kontamination durch wärmeres Wasser und irdische Lebensformen, Bakterien, Viren, Algen. Das könnte einige Zeit dauern, aber es würde bestimmt passieren. Und das können wir nicht riskieren.«
Sax zuckte dann die Achseln. »Erstens ist es ein postudiertes Leben mit sehr geringer Wahrscheinlichkeit. Zweitens würde es auf Jahrhunderte hinaus nicht gefährdet sein. Wir könnten es in jener Zeit vermutlich lokalisieren und schützen.«
»Aber vielleicht würden wir es nicht finden können.«
»Sollen wir also innehalten für ein wenig wahrscheinliches Leben, das wir womöglich nie finden werden?«
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