»Ist das klar?« sagte Arkady scharf und schaute sich um. »Wenn Frank und Maya uns sagen, dass wir etwas tun sollen, sind wir dann so frei, sie zu ignorieren? Wenn Houston oder Baikonur uns auftragen, etwas zu tun, sind wir frei, sie zu ignorieren?«
»Ich denke schon«, erwiderte John sanft.
Diese Äußerung brachte ihm einen scharfen Blick von Frank ein. Die Konversation spaltete sich in diverse Diskussionen auf, da eine Menge Leute etwas zu sagen hatten. Aber Arkady fuhr wieder gegen sie alle dazwischen:
»Wir sind von unseren Regierungen hier hergeschickt; und alle unsere Regierungen haben Mängel, und manche katastrophale. Darum ist die Geschichte ein so blutiger Schmutz. Jetzt sind wir auf uns allein gestellt, und ich meinerseits habe keine Lust, alle Fehler der Erde zu wiederholen — nur wegen konventioneller Denkweise. Wir sind die ersten Kolonisten auf dem Mars! Wir sind Wissenschaftler! Es ist unser Beruf, neue Dinge herauszufinden und sie neu zu machen.«
Die Diskussionen gingen wieder los, lauter denn je. Maya wandte sich ab und fluchte im stillen über Arkady. Sie war ärgerlich, wie wütend die Leute wurden. Sie sah, dass John Boone grinste. Er stieß sich vom Fußboden auf Arkady hin ab, kam zum Halt, indem er ihn anstieß und schüttelte ihm dann die Hand. Dadurch wurden sie beide in die Luft geschleudert wie in einem drolligen Tanz. Diese Geste der Unterstützung führte dazu, dass die Leute neu überlegten. Maya sah das an ihren überraschten Gesichtern. John war neben seinem Ruhm auch dafür bekannt, dass er gemäßigt und zurückhaltend war. Und wenn er Arkadys Ideen billigte, war das eine völlig andere Sache.
»Verdammt, Ark!« sagte John. »Erst diese verrückten Problemläufe und nun dies. Du bist wirklich ein wilder Bursche. Wie, zum Teufel, hat man dich überhaupt auf dieses Schiff gelassen?«
Das ist genau meine Frage, dachte Maya.
»Ich habe gelogen«, sagte Arkady.
Alle lachten. Sogar Frank sah überrascht aus. »Aber natürlich habe ich geschwindelt!« brüllte Arkady. Ein breites Grinsen spaltete seinen roten Bart. »Wie anders hätte ich sonst hierher kommen können? Ich will zum Mars gehen, um zu tun, was ich will; und das Auswahlkomitee wollte, dass Leute gingen und taten, was man ihnen auftrug. Das wisst ihr.« Er zeigte auf sie hinunter und rief: »Ihr habt alle gelogen, und das wisst ihr.«
Frank lachte heftiger denn je. Sax machte seinen üblichen Buster Keaton, hob aber einen Finger und sagte: »Die Revidierte Vielphasige Personenbestandsaufnahme von Minnesota«, und allgemeine Heiterkeit brach aus. Sie hatten alle diese Prüfung ablegen müssen. Es war der am meisten benutzte psychologische Test der Welt und von Experten hoch geschätzt. 556 Fragen mussten beantwortet werden. Daraus wurde ein Profil gewonnen. Aber die Beurteilung dessen, was die Antworten besagten, beruhten auf den vorgegangenen Antworten einer Mustergruppe von 2600 weißen verheirateten Farmern der 1930er Jahre. Allen späteren Revisionen zum Trotz war das durch die Natur dieser ersten Testgruppe erzeugte Vorurteil immer noch tief in dem Test verankert. Zumindest dachten das manche. »Minnesota!« brüllte Arkady und rollte mit den Augen. »Farmer! Farmer aus Minnesota! Ich sage euch jetzt, ich habe bei jeder Antwort gelogen! Ich habe genau das Gegenteil geantwortet, was ich wirklich fühlte; und das hat mir erlaubt, als normal eingestuft zu werden!«
Wilde Beifallsrufe begrüßten diese Erklärung. John sagte: »Zum Teufel, ich stamme aus Minnesota und musste auch lügen.«
Weiterer Applaus. Frank war, wie Maya bemerkte, vor Heiterkeit rot angelaufen, des Sprechens unfähig. Er presste sich die Hände auf den Magen. Er nickte und kicherte, unfähig aufzuhören. Sie hatte ihn nie derartig lachen sehen.
Sax sagte: »Der Test hat dich zu lügen gezwungen.«
»Was, und dich nicht?« fragte Arkady. »Hast du nicht auch gelogen?«
»Eigentlich nicht«, sagte Sax und zwinkerte, als ob ihm diese Idee nie gekommen wäre. »Ich habe bei jeder Frage die Wahrheit gesagt.«
Sie lachten noch lauter. Sax machte daraufhin ein erstauntes Gesicht, aber dadurch wirkte er noch komischer.
Jemand rief: »Michel, was sagst du? Was hältst du davon?«
Michel Duval spreizte die Hände. »Vielleicht unterschätzt ihr die Raffinesse dieses Tests. Es gibt Fragen, die prüfen, wie ehrlich man ist.«
Diese Äußerung überschüttete ihn mit einem Regen von Fragen, einer methodologischen Inquisition. Wie war es mit den Kontrollen? Wie sollten die Tester ihre eigenen Theorien in Frage stellen? Wie wiederholten sie die Tests? Wie eliminierten sie die alternative Deutung der Daten? Wie konnten sie überhaupt in irgendeinem Sinne des Wortes beanspruchen, wissenschaftlich zu sein? Offensichtlich hielt eine Menge von ihnen Psychologie für eine Pseudowissenschaft. Viele waren recht verärgert wegen der Reifen, durch die man sie hatte springen lassen. Die Jahre des Wettbewerbs hatten ihren Tribut gefordert. Und die Entdeckung dieses gemeinsamen Gefühls löste dutzendweise heftige Gespräche aus. Die durch Arkadys politische Rede erzeugte Spannung verschwand.
Maya dachte, Arkady hätte vielleicht das eine durch das andere entschärft. Falls ja, wäre das geschickt gewesen. Aber Arkady war ja ein geschickter Mann. Sie dachte zurück. Tatsächlich war es John Boone gewesen, der das Thema gewechselt hatte. Er war wirkungsvoll zur Decke geflogen und Arkady zu Hilfe gekommen, und Arkady hatte die Chance ergriffen. Sie waren beide geschickte Männer. Und es schien möglicht, dass sie irgendwie in Einvernehmen standen. Dass sie vielleicht eine alternative Führerschaft bildeten — einer Amerikaner, einer Russe. Darum würde man sich kümmern müssen.
Sie sagte zu Michel: »Hältst du es für ein schlechtes Zeichen, wenn alle uns für Lügner halten?«
Michel zuckte die Achsel. »Es war heilsam, darüber zu sprechen. Jetzt erkennen wir, dass wir einander ähnlicher sind, als wir dachten. Keiner muss sich mehr den Vorwurf machen, ungewöhnlich unredlich gewesen zu sein, um an Bord zu kommen.«
»Und du?« fragte Arkady. »Hast du dich als ein höchst rationaler und ausgeglichener Psychologe präsentiert, der den seltsamen Geist verbarg, den wir kennen und lieben gelernt haben?«
Michel lächelte schwach. »Du bist der Experte für seltsame Dinge, Arkady.«
Dann ertönten Rufe seitens der wenigen, die noch die Schirme beobachteten. Die Strahlungsrate hatte zu sinken begonnen. Nach einer Weile rutschte sie bis nur ein wenig über normal ab.
Jemand schaltete die Pastorale an der Stelle wieder ein, wo das Horn ertönt. Der letzte Satz der Sinfonie: ›Frohe und dankbare Empfindungen nach dem Sturm‹ strömten aus dem Lautsprechersystem und verbreiteten sich durch das Schiff wie Löwenzahnsamen im Wind. Die schöne alte volkstümliche Melodie wurde durch die Ares getragen und entfaltete sich in all ihrer Beethovenschen Fülle. Während sie lief, stellte man fest, dass alle geschützten Systeme des Schiffs intakt geblieben waren. Die dickeren Wände der Farm und des Arboretums hatten den Pflanzen einigen Schutz geboten. Und obwohl es einige Verluste gab und eine ganze Ernte, die nicht essbar war, waren die Saatbestände nicht geschädigt. Auch die Tiere konnten nicht verzehrt werden. Sie würden aber vermutlich eine gesunde neue Generation zur Welt bringen. Die einzigen Todesfälle waren einige Singvögel aus dem Speisesaal D, die man nicht eingefangen hatte. Es fanden sich einige tot auf dem Boden.
Was die Crew anging, so hatte sie der Schutzraum vor mehr als sechs Rem bewahrt. Das war während gerade nur drei Stunden schlimm, hätte aber übler sein können. Die Hülle des Schiffs hatte mit mehr als 140 Rem eine tödliche Dosis erhalten.
Sechs Monate in einem Hotel, ohne je einen Spaziergang draußen. Drinnen war später Sommer, und die Tage waren lang. Grün beherrschte die Wände und Decken, und die Leute gingen barfuss. Ruhige Unterhaltungen waren kaum zu hören vor dem Summen der Maschinerie und dem Brausen der Ventilatoren. Das Schiff wirkte irgendwie leer. Ganze Sektionen wurden aufgegeben, als die Crew sich zum Warten einrichtete. Kleine Menschengruppen saßen in den Sälen in den Torussen B und D und plauderten. Manche unterbrachen ihre Gespräche, wenn Maya vorbeikam, was sie natürlich beunruhigend fand. Sie hatte Mühe einzuschlafen und aufzuwachen. Die Arbeit machte sie ruhelos. Schließlich warteten alle Ingenieure, und die Simulationen waren nachgerade unerträglich geworden. Sie hatte Mühe, den Ablauf der Zeit zu verfolgen. Sie stolperte mehr als sonst. Sie hatte Vlad aufgesucht, und der hatte Überhydrierung empfohlen, mehr Laufen, mehr Schwimmen.
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