Tatsächlich war eine große Sonneneruption ein Ereignis, das sie vorher schon oft simuliert hatten. Ein jeder hatte bestimmte Aufgaben, davon etliche in sehr kurzer Zeit. Darum rannten sie um die Torusse, fluchten auf ihr Pech und bemühten sich, einander nicht in die Quere zu kommen. Es gab sehr viel zu tun, da das Verschalten kompliziert und nicht sehr automatisiert war. Während des Schleppens von Pflanzenkästen in den zugehörigen Schutzraum schrie Janet: »Ist das einer von Arkadys Tests?«
»Er sagt nein.«
»Mist!«
Sie hatten die Erde absichtlich während eines Mimimums im Aktivitätszyklus der Sonne verlassen, um die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten einer solchen Eruption zu mindern. Sie hatten ungefähr eine halbe Stunde, bis die erste Strahlung eintraf; und nicht mehr als eine Stunde danach würde das wirklich harte Zeug folgen.
Notlagen im Weltraum können so auffällig sein wie eine Explosion oder so ungreifbar wie eine Gleichung, aber ihre Augenfälligkeit hat nichts mit ihrer Gefährlichkeit zu tun. Die Sinnesorgane der Besatzung würden nie den subatomaren Wind spüren, der auf sie zukam, und doch war er eines der schlimmsten Dinge, die passieren konnten. Und das wussten sie alle. Sie rannten durch die Torusse, um ihre Abdeckungsarbeiten zu erledigen — Pflanzen mussten verhüllt oder in geschützte Bereiche geschafft werden, die Hühner und Schweine und Zwergrinder und die übrigen Tiere und Vögel mussten in ihre eigenen gesicherten Schutzräume getrieben werden, Sämereien und gefrorene Embryos mussten eingesammelt und weggeschafft werden. Empfindliche elektrische Geräte mussten in Kästen gebettet oder eingehüllt werden. Nachdem sie mit diesen dringend eiligen Aufgaben fertig waren, hangelten sie sich an den Speichen hinauf zum Zentralschacht und flüchteten sich dann durch dessen Mittelrohr in den Sturmschutzraum, der sich direkt hinter dem hinteren Ende des Schachtes befand.
Hiroko und ihre Biosphärenmannschaft kamen als letzte herein und polterten durch die Schleuse volle siebenundzwanzig Minuten nach dem ersten Alarm. Sie stürzten erhitzt und außer Atem in den schwerelosen Raum. »Hat es schon angefangen?«
»Noch nicht.«
Sie rissen persönliche Dosimeter von einem Klettbandregal und befestigten sie an ihrer Kleidung. Der Rest der Crew schwebte schon in der halbzylindrischen Kammer, schwer atmend und mit der Behandlung von Prellungen und einigen Verrenkungen beschäftigt. Maya ließ sie abzählen und war erleichtert zu hören, dass alle hundert Personen ohne Ausfälle durchgekommen waren.
Der Raum schien gedrängt voll zu sein. Sie hatten seit vielen Wochen nicht alle Hundert auf einem Fleck beisammen gehabt, und sogar ein maximaler Raum wirkte nicht groß genug. Dieser hier beanspruchte einen Tank im mittleren Strang des Nabenschachtes. Die vier Tanks um ihn herum waren mit Wasser gefüllt; und ihr Tank wurde der Länge nach von einem anderen Halbzylinder eingenommen, der mit Schwermetallen gefüllt war. Dessen flache Seite war ihr ›Fußboden‹, und er war auf kreisrunden Schienen in den Tank eingefügt. Er rotierte, um die Achsenrotation des Schiffs aufzuheben und hielt so das Rohr immer zwischen den Menschen und der Sonne.
So schwebten sie in einem nicht rotierenden Raum, während sich das gewölbte Dach des Tanks über ihnen mit den üblichen vier Umläufen pro Minute drehte. Das sah merkwürdig aus und durch die zusätzliche Schwerelosigkeit drohten einige Leute seekrank zu werden. Diese Unglücklichen sammelten sich am Ende des Schutzraums, wo sich die Toiletten befanden. Und um ihnen visuell zu helfen, orientierten sich alle anderen nach dem Fußboden. Deshalb kam die Strahlung durch die Füße herein, zumeist Gammastrahlen, die von den Schwermetallen ausgestreut wurden. Maya fühlte einen Impuls, die Knie zusammenzuhalten. Menschen schwebten an Ort und Stelle oder legten Sandalen mit Klettsohlen an, um über den Flur zu gehen. Sie sprachen leise, fanden instinktiv ihre Türnachbarn, Arbeitskollegen und Freunde. Die Unterhaltungen verliefen gedämpft, als ob man einer Cocktailgesellschaft verkündet hätte, dass die Hors d’oeuvres verdorben gewesen wären.
John Boone zwängte sich zu den Computerterminals am vorderen Ende des Raumes durch, wo Arkady und Rex das Schiff überwachten. Er tastete einen Befehl ein, und die Daten über äußere Strahlung erschienen plötzlich auf dem größten Bildschirm des Raumes. »Wollen wir doch mal sehen, wie viel auf das Schiff trifft«, sagte er fröhlich.
Stöhnen. »Müssen wir das?« rief Ursula.
John sagte: »Das sollten wir schon wissen. Und ich möchte auch sehen, wie gut dieser Schutz funktioniert. Der auf der Rust Eagle war ungefähr so wirkungsvoll wie das Lätzchen beim Zahnarzt.«
Maya lächelte. Es war eine jener bei John so sehr seltenen Erinnerungen daran, dass er mehr Strahlung ausgesetzt gewesen war als alle anderen — ungefähr 160 Rem im Lauf seines Lebens, wie er jetzt in Beantwortung einer ihm gestellten Frage erklärte. Auf der Erde erhielt man ein Fünftel eines Menschen-Röntgen-Äquivalents jährlich; und im Erdorbit bekam man, noch innerhalb der Magnetosphäre der Erde, ungefähr fünfunddreißig pro Jahr ab. Also hatte John es sehr heiß gehabt; und das gab ihm jetzt irgendwie das Recht, die äußeren Daten zu verfolgen, wenn er das wollte.
Die auch daran interessiert waren — etwa sechzig Personen —, drängten sich hinter ihm, um den Schirm anzusehen. Der Rest sammelte sich am anderen Ende des Tanks bei denen, die über Unwohlsein klagten, einer Gruppe, die bestimmt nicht wissen wollte, wie viel Strahlung sie bekamen. Schon der Gedanke daran genügte, dass einige von ihnen aufs Klo eilten.
Dann schlug die Eruption mit voller Gewalt zu. Die Daten der äußeren Strahlung stiegen erheblich über das normale Niveau des Sonnenwindes und sausten dann jäh in die Höhe. Einige Beobachter zogen gleichzeitig scharf die Luft ein, und es gab mehrere Schreckensschreie.
»Seht aber, wie viel der Schutz aufhält!« sagte John und prüfte das Dosimeter an seinem Hemd. »Es sind nur Null Komma drei Rem.«
Das war gewiss soviel wie die Strahlendosis eines Zahnarztes während mehrerer Lebensspannen. Aber die Strahlung außerhalb des Schutzraums betrug schon 70 Rem, was sich bereits einer tödlichen Dosis näherte. Sie kamen also günstig davon. Aber die volle Strahlung flog durch den Rest des Schiffes! Milliarden Partikel drangen hindurch und wurden bei Zusammenstößen mit den Atomen von Wasser und Metall gebunden. Hunderte von Millionen flogen zwischen diesen Atomen durch und durch die Atome ihrer Körper, ohne etwas zu berühren, als wären sie nur Geister. Aber Tausende trafen auf Atome von Fleisch und Knochen. Die meisten dieser Zusammenstöße waren harmlos. Doch unter all diesen Tausenden gab es höchstwahrscheinlich eines oder zwei (oder drei?), in denen ein Chromosomenstrang einen Treffer erhielt und sich in die falsche Richtung knickte. Und dann war es passiert: Tumorauslösung fing mit einer solchen Type im Buch des Lebens an. Und Jahre später, sofern sich nicht die DNA des Opfers zum Glück selbst heilte, würde die Tumoranregung, die ein mehr oder weniger unvermeidlicher Teil des Lebens war, sich auswirken, und es würde im Innern etwas anderes aufblühen: Höchstwahrscheinlich Krebs, Leukämie und ziemlich sicher der Tod.
Also war es schwer, die Zahlen nicht unglücklich anzusehen. 1,4658 Rem, 1,7861, 1,9004. »Wie ein Streckenmeßgerät«, sagte Boone ruhig, während er auf sein Dosimeter blickte. Er packte mit beiden Händen ein Geländer und zog sich vor und zurück, als ob er isometrische Übungen machte. Frank sah das und sagte: »John, was, zum Teufel, machst du da?«
»Ich weiche aus«, sagte John und lächelte über Franks Ärger. »Du weißt — ein bewegliches Ziel.«
Die Leute lachten ihn aus. Da die Größe der Gefahr exakt auf Schirmen und Graphiken angegeben war, begannen sie sich weniger hilflos zu fühlen. Das war unlogisch; aber Benennung war die Kraft, die einen Menschen zu einem guten Wissenschaftler machte. Und sie alle waren Berufsgelehrte, darauf trainiert, die Möglichkeit eines solchen Sturms zu akzeptieren. All solche mentalen Gewohnheiten strömten in ihre Gedanken, und der Schock des Ereignisses verblasste ein wenig. Sie kamen damit zurecht.
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