Frank schwebte zu Maya hinüber, und sie rückte nervös zur Seite. Sie hatten nie über ihre kurze Affäre gesprochen; und die war auch seit etlicher Zeit nicht wieder aufgetaucht. Sie hatte darüber nachgedacht, was sie sagen sollte, wenn es je dazu käme. Sie würde sagen, dass sie sich gelegentlich mit Männern abgab, die ihr gefielen. Dass das etwas aus der momentanen Situation heraus Getanes wäre.
Aber Frank deutete nur auf den roten Pfennig am Himmel. »Ich frage mich, weshalb wir überhaupt gehen.«
Maya zuckte die Achseln. Wahrscheinlich meinte er nicht wir, sondern ich. Sie sagte: »Jeder hat so seine Gründe.«
Er schaute sie an. »Das ist nur zu wahr.«
Sie ignorierte diesen Tonfall von ihm und sagte: »Vielleicht sind es unsere Gene. Vielleicht haben sie gespürt, dass die Dinge auf der Erde schief laufen. Haben einen zunehmenden Mutationsdruck gespürt oder etwas in der Art.«
»Deshalb haben sie für einen sauberen Start losgeschlagen.«
»Ja.«
»Die Theorie des egoistischen Gens. Die Intelligenz nur als ein Werkzeug zur Unterstützung erfolgreicher Fortpflanzung.«
»Das nehme ich an.«
»Aber diese Reise gefährdet erfolgreiche Fortpflanzung«, sagte Frank. »Hier draußen ist es nicht sicher.«
»Aber auf der Erde ist es auch nicht sicher. Vergeudung, Strahlung, andere Menschen …«
Frank schüttelte den Kopf. »Nein. Ich glaube nicht, dass die Selbstsucht in den Genen steckt. Ich nehme an, sie steckt irgendwo anders.« Er streckte den Zeigefinger aus und stubste sie zwischen die Brüste — ein kräftiger Stoß gegen das Brustbein, durch den er auf den Boden zurückgeschubst wurde. Währenddessen starrte er sie unverwandt an und berührte sich an derselben Stelle. »Gute Nacht, Maya!«
Zwei Wochen später war Maya in der Farm bei der Kohlernte und ging eine Schneise zwischen langen Stapeln von Paletten entlang. Sie hatte den Raum für sich allein. Die Kohlköpfe sahen aus wie Reihen von Gehirnen, die nachdenklich in dem hellen Nachmittagslicht glänzten.
Dann sah sie eine Bewegung und blickte zur Seite. Quer durch den Raum, durch eine Algenflasche hindurch, sah sie ein Gesicht. Es wurde durch das Glas der Flasche verzerrt. Das Gesicht eines Mannes mit brauner Haut. Der Mann schaute zur Seite und bemerkte sie nicht. Er schien mit jemandem zu sprechen, den sie nicht sehen konnte. Er bewegte sich, und das Bild seines Gesichts wurde deutlich, vergrößert in der Mitte der Flasche. Sie begriff, warum sie so genau hinschaute und warum ihr Magen sich verkrampfte: Sie hatte ihn noch nie gesehen.
Er wandte sich um und blickte in ihre Richtung. Durch zwei gekrümmte Glasflächen begegneten sich ihre Augen. Er war ein Fremder, mit schmalem Gesicht und großen Augen.
Er verschwand in einem braunen Schimmer. Maya zögerte eine Sekunde und fürchtete sich, ihn zu verfolgen. Dann zwang sie sich, durch den ganzen Raum zu rennen und die zwei Biegungen der Verbindung hinauf in den nächsten Zylinder. Der war leer. Sie lief durch drei weitere Zylinder, ehe sie anhielt. Dann stand sie da und schaute mit rasselndem Atem auf Tomatenranken. Sie schwitzte, fror aber. Ein Fremder?! Das war unmöglich. Sie hatte ihn aber gesehen! Sie konzentrierte sich auf ihr Gedächtnis und versuchte sich das Gesicht zu vergegenwärtigen. Vielleicht war es … Aber nein. Es war keiner der Hundert gewesen, das wusste sie. Gesichtserkennung gehörte zu den stärksten Fähigkeiten des Geistes und war erstaunlich exakt. Und er war bei ihrem Anblick weggelaufen.
Ein blinder Passagier. Aber auch das war unmöglich! Wo würde er sich verstecken, wie würde er leben? Was würde er während des Strahlungssturms gemacht haben?
Fing sie also schon an zu halluzinieren? War es so weit gekommen?
Sie ging in ihren Raum zurück. Ihr war übel. Die Gänge von Torus D waren etwas finster, trotz der hellen Beleuchtung, und es kribbelte ihr im Nacken. Als die Tür erschien, tauchte sie in das Refugium ihres Zimmers. Aber da gab es nur ein Bett und einen Wandtisch, einen Stuhl und eine Toilette, sowie einige Regale. Sie saß da eine Stunde lang, dann zwei. Aber sie konnte da nichts machen, keine Antworten, keine Zerstreuungen. Kein Entrinnen.
Maya fand sich außerstande, jemandem gegenüber zu erwähnen, was sie gesehen hatte; und das war irgendwie noch erschreckender als der Vorfall an sich, da es seine Unmöglichkeit noch unterstrich. Die Leute wurden denken, sie wäre übergeschnappt. Welche andere Schlussfolgerung gab es? Wie würde er essen, wo würde er sich verstecken? Nein. Das würden zu viele Leute wissen müssen. Es war wirklich unmöglich. Aber dieses Gesicht?
Eines Nachts begegnete es ihr wieder im Traum. Sie wachte schweißgebadet auf. Halluzination war eines der Anzeichen von Zusammenbruch im Raum, wie sie wohl wusste. Das geschah recht häufig während langer Aufenthalte in Erdumlaufbahnen. Einige Dutzend Fälle waren aktenkundig. Gewöhnlich fing es damit an, dass die Leute vor dem ständig vorhandenen Hintergrund von Ventilation und Apparaten Stimmen hörten; aber eine recht häufige Alternative war der Anblick eines Arbeitskollegen, der nicht da war, oder noch schlimmer eines Doppelgängers, als ob sich der leere Raum mit Spiegeln angefüllt hätte. Man glaubte, dass Mangel an Sinneseindrücken diese Phänomene bewirkte. Und die Ares auf ihrer langen Reise und keiner Erde zum Anschauen und einer brillanten (und manche könnten sagen: besessenen) Besatzung war als mögliches Risiko erachtet worden. Dies war einer der Gründe, weshalb man den Schiffsräumen eine solche Vielfalt an Farbe und Struktur gegeben hatte, zusammen mit täglich und jahreszeitlich sich änderndem Wetter. Und dennoch hatte sie etwas gesehen, das sie nicht glauben konnte.
Und wenn sie jetzt durch das Schiff ging, schien es ihr, als ob die Crew sich in kleine private Gruppen aufspaltete, die wenig wechselseitige Beziehungen unterhielten. Das Team der Farm verbrachte fast seine ganze Zeit in den Agrarbezirken, nahm seine Mahlzeiten sogar dort auf dem Fußboden ein und schlief (miteinander, wie man raunte) längs der Reihen von Pflanzen. Das medizinische Team hatte in Torus B seine eigene Suite von Räumen, Büros und Labors; und die Leute verbrachten ihre Zeit dort, vertieft in Experimente und Beobachtungen und Konsultationen mit der Erde. Das Flugteam bereitete sich auf den Eintritt in die Marsumlaufbahn vor und ließ jeden Tag mehrere Simulationen laufen. Und der Rest war … zerstreut und schwer zu finden. Wenn Maya durch die Torusse ging, erschienen ihr die Räume leerer als je zuvor. Der Speisesaal D war nie voll. Und dann bemerkte sie bei den getrennten Klumpen von Essenden, die da waren, dass recht häufig Streitereien ausbrachen und sehr rasch gedämpft wurden. Privates Gezänk, aber worum?
Maya selbst saß weniger am Tisch und hörte mehr zu. Man konnte eine Menge über eine Gesellschaft daraus erfahren, welche Gesprächsthemen vorkamen. In diesen Haufen drehte sich das Gespräch fast immer um wissenschaftliche Fragen.
Fachsimpelei: Biologie, Ingenieurwesen, Geologie, Medizin und was auch immer. Über das Zeug konnte man ewig schwatzen.
Wenn aber die Anzahl der Leute bei einer Konversation unter vier sank, dann pflegten sich die Themen zu ändern. Das Fachsimpeln wurde durch Klatsch bereichert (oder gänzlich ersetzt). Und der Klatsch drehte sich immer um jene zwei großen Formen sozialer Dynamik: Sex und Politik. Die Stimmen wurden gesenkt, die Köpfe zusammengerückt, und das Gesprächskarussell drehte sich. Gerüchte über sexuelle Beziehungen wurden verbreiteter, bissiger und komplexer. In einigen Fällen, wie dem unglücklichen Dreieck von Janet Blyleven, Mary Dunkel und Alex Zhalin, wurde es zum Schiffsgespräch. In anderen Fällen blieb es so verborgen, dass man nur flüsterte, begleitet von gehässigen, vielsagenden Blicken. Janet Blyleven pflegte mit Roger Calinks in den Speisesaal zu gehen, und Frank bemerkte zu John mit einem Unterton, der für Mayas Ohren bestimmt war: »Janet denkt, dass wir der Promiskuität huldigen.« Maya wollte ihn ignorieren wie immer, wenn er auf diese zynische Weise sprach, schaute aber später dieses Wort in einem soziobiologischen Lexikon nach und fand, dass Promiskuität bedeutete, dass jedes Männchen sich mit jedem Weibchen paarte.
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