Phobos überquerte den Himmel in viereinviertel Stunden. Sie würde also nicht lange warten müssen. Er war als Halbmond aufgegangen, war jetzt aber bucklig, fast voll, auf halbem Wege zum Zenith, und bewegte sich gleichmäßig über den gefleckten Himmel. Sie konnte in der grauen Scheibe einen schwachen Lichtpunkt erkennen. Das waren die beiden überkuppelten Krater Semenov und Leveykin. Sie hielt den Radiosender hin und gab den Zündcode ein. Es war wie eine Fernbedienung beim Fernsehen.
Ein helles Licht flammte auf der vorderen Kante der kleinen grauen Scheibe auf. Die zwei schwachen Lichter erloschen. Das helle Licht wurde noch stärker. Konnte sie die Verlangsamung wirklich erkennen? Wahrscheinlich nicht. Aber es gab sie.
Phobos war auf dem Weg nach unten.
Wieder zurück in Cairo fand sie, dass sich die Nachricht schon verbreitet hatte. Das Aufflammen war hell genug gewesen, um den Leuten ins Auge zu fallen; und danach hatten sie sich wie gewohnt vor den leeren Fernsehschirmen zusammengedrängt und Gerüchte und Vermutungen ausgetauscht. Irgendwie hatte sich die Grundtatsache herumgesprochen oder war unabhängig herausgebracht worden. Nadia schlenderte von einer Gruppe zur anderen und hörte die Leute sagen: »Phobos ist getroffen worden!« Und jemand lachte. »Sie haben die Roche-Grenze bis zu ihm ausgedehnt!«
Sie glaubte schon, sich in der Medina verlaufen zu haben, kam aber fast direkt zu den Stadtbüros. Maya war draußen und rief: »He, Nadia, hast du Phobos gesehen?«
»Ja.«
»Roger sagt, als sie im Jahr Eins da oben waren, haben sie ein System von Sprengsätzen und Raketen eingebaut. Hat Arkady dir davon erzählt?«
»Ja.«
Sie gingen in die Büros. Maya dachte laut nach: »Wenn es ihnen gelingt, ihn genug zu verlangsamen, wird er herunterkommen. Ich frage mich, ob es möglich sein wird zu sagen, wo. Wir befinden uns hier verdammt nahe am Äquator.«
»Er wird sicher zerbrechen und an vielen Stellen herunterkommen.«
»Stimmt. Ich möchte wissen, was Sax denkt.«
Sie fanden Sax und Frank vor einem Schirm beisammen, Yeli, Ann und Simon vor einem anderen. Ein UNOMA-Satellit verfolgte Phobos mit einem Teleskop, und Sax maß die Durchgangsgeschwindigkeit des Mondes über der Marsoberfläche, um seine Geschwindigkeit zu bestimmen. In dem Bild auf dem Schirm leuchtete die Kuppel von Stickneys wie ein Faberge-Ei, aber das Ei wurde von der vorangehenden Kante des Mondes weggezogen, die unscharf und durch Gase und Auswürfe weiß gestreift war. Sax sagte zu niemandem im besonderen: »Seht, wie gut ausgeglichen der Schub ist! Bei einem zu jähen Schub wäre das ganze Ding zerbrochen worden. Und ein unausgeglichener Schub hätte es in Rotation versetzt, und dann hätte der Schub es über den ganzen Platz verstreut.«
»Ich sehe Anzeichen von stabilisierenden seitlichen Behüben«, sagte seine KI.
»Jets zur Lageregelung«, erklärte Sax. »Die haben aus Phobos eine große Rakete gemacht.«
»Das haben sie im ersten Jahr getan«, sagte Nadia. Sie wusste nicht genau, warum sie redete, sie schien immer noch nicht wieder ganz bei sich zu sein und beobachtete ihr Tun mit einigen Sekunden Verzögerung. »Ein großer Teil der Phobosbesatzung kam von der Raketen- und Steuerungstechnik. Sie haben die Eis-Adern zu flüssigem Sauerstoff und Deuterium umgewandelt und das in ausgerichteten Säulen gespeichert, die im Chondrit steckten. Die Motoren und der ganze Steuerungskomplex wurden zentral vergraben.«
»Er ist also eine große Rakete«, sagte Sax und nickte, während er Tasten bediente. »Umlaufperiode von Phobos 27547 Sekunden. Also macht er ungefähr … 2,146 Kilometer in der Sekunde. Um ihn herunterzuholen, muss man ihn auf … 1,561 Kilometer in der Sekunde abbremsen. Also 0,585 Kilometer in der Sekunde langsamer. Für eine Masse wie Phobos … Oho! Das ist eine Menge Treibstoff.«
»Auf wie viel ist er jetzt herunter?« fragte Frank. Sein Gesicht war schwarz, und seine Kinnmuskel arbeiteten unter der Haut wie ein kleiner Bizeps — wütend, wie Nadia sah, über seine Unfähigkeit vorherzusagen, was als nächstes geschehen würde.
»Ungefähr eins Komma sieben. Und diese großen Schubraketen brennen noch. Er wird herunterkommen. Aber nicht in einem Stück. Der Abstieg wird ihn zerbrechen. Ich bin sicher.«
»Die Roche-Grenze?«
»Nein, nur die Belastung durch Luftbremsung, und mit all diesen leeren Treibstoffkammern …«
»Was ist mit den Menschen auf ihm geworden?« hörte Nadia sich fragen.
»Jemand hat gesagt, es hätte so geklungen, als ob die ganze Bevölkerung herausgekommen wäre. Niemand war da, um zu versuchen, die Zündung zu stoppen.«
»Gut«, sagte Nadia und setzte sich schwer auf die Couch.
»Wann wird er herunterkommen?« fragte Frank.
Sax zwinkerte. »Unmöglich zu sagen. Hängt davon ab, wann er zerbricht. Aber ich schätze, recht bald. Und dann wird es ein Streifen irgendwo längs des Äquators sein, wahrscheinlich ein großer Streifen mit viel Unheil. Es wird ein recht großer Meteoritenschauer sein.«
»Das wird etwas von dem Aufzugskabel beseitigen«, sagte Simon leise. Er saß neben Ann und sah sie besorgt an. Sie starrte dumpf auf Simons Schirm und ließ nicht erkennen, dass sie etwas von ihnen hörte. Es war nie von ihrem Sohn Peter die Rede gewesen. War das besser oder schlimmer als ein Haufen Ruß und ein Datenschild an der Hand? Nadia entschied: besser. Aber immer noch hart.
»Seht!« sagte Sax. »Er zerbricht.«
Das Satellitenteleskop lieferte ihnen ein vorzügliches Bild. Die Kuppel über Stickney zerbarst nach außen in große Scherben, und die Kraterreihen, die für Phobos charakteristisch waren, stießen Staubwolken aus und gähnten offen. Dann blühte die kleine kartoffelähnliche Welt auf und zerfiel in etliche unregelmäßige Stücke. Ein halbes Dutzend größere breiteten sich langsam aus, wobei das größte vorausflog. Ein Brocken flog zur Seite, offenbar noch von einer der Raketen angetrieben, die im Innern des Mondes verborgen gewesen waren. Die restlichen Stücke begannen sich in einer unregelmäßigen Linie auszubreiten, wobei jedes mit unterschiedlicher Geschwindigkeit taumelte.
»Nun, wir sind irgendwie in der Schusslinie«, bemerkte Sax und sah die anderen an. »Die größten Brocken werden bald in die Atmosphäre treffen, und dann wird alles ziemlich schnell gehen.«
»Kannst du bestimmen, wann?«
»Nein. Es gibt zu viele Unbekannte. Längs des Äquators, das ist alles. Wir sind wahrscheinlich weit genug südlich, um die größten Brocken davon abzubekommen; aber es könnte durchaus ein Streueffekt eintreten.«
»Menschen auf dem Äquator sollten sich nach Norden oder Süden wenden«, sagte Maya.
»Wahrscheinlich wissen sie es. Auf jeden Fall hat der Fall des Kabels das Gebiet schon recht gründlich gesäubert.«
Man konnte kaum mehr tun, als zu warten. Keiner von ihnen wollte die Stadt verlassen — zu abgehärtet oder zu müde, um sich wegen langfristiger Risiken Sorgen zu machen. Frank ging im Raum hin und her, sein dunkles Gesicht vor Wut zuckend. Endlich konnte er es nicht mehr aushalten und ging wieder an seinen Schirm, um eine Reihe kurzer, bissiger Mitteilungen auszusenden. Es kam eine Antwort herein, und er knurrte: »Wir haben eine Galgenfrist; denn die UN-Polizei furchtet sich hier zu landen, solange nicht der ganze Dreck heruntergekommen ist. Aber danach werden sie wie Habichte hinter uns her sein. Sie behaupten, dass der Befehl zur Zündung der Explosionen auf Phobos von hier aus erfolgt wäre; und sie sind es satt, wenn eine neutrale Stadt als Befehlszentrum für den Aufstand benutzt wird.«
»Also haben wir Zeit gewonnen, bis der Fall vorbei ist«, sagte Sax.
Er schaltete sich in das UNOMA-Netz ein und bekam ein Radarmosaikbild der Fragmente. Danach gab es nichts mehr zu tun. Sie setzten sich, standen auf und gingen umher. Sie blickten auf die Schirme, aßen kalte Pizza , sie schlummerten. Nadia tat nichts dergleichen. Es gelang ihr nur zu sitzen, über den Magen gebeugt, der sich in ihrem Innern wie eine eiserne Faust anfühlte. Sie wartete.
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