Als Mitternacht und der Zeitschlupf nahe waren, erweckte etwas auf den Schirmen Saxens Aufmerksamkeit, und mit etwas wildem Herumtippen auf Franks Kanälen kam er zu dem Observatorium auf Olympus Mons durch. Dort war es kurz vor der Morgendämmerung, und eine der Kameras dort gab ihnen einen niedrigen Blick in den Raum nach Süden, wo die schwarze Krümmung des Planeten die Sterne verdeckte. Meteore schossen schräg leuchtend aus dem westlichen Himmel herunter, so schnell und hell, als wären sie geradlinige Blitzstrahlen oder titanische Leuchtspurgeschosse, die sich nacheinander ostwärts verteilten. In den letzten Momenten vor dem Auftreffen brachen sie in Stücke. An jedem Auftreffpunkt riefen sie phosphoreszierende Klumpen hervor wie in den ersten Augenblicken einer ganzen Reihe von Kernexplosionen. Das schwarze Feld wurde von gelben, durch Rauch getrübten Flecken überzogen.
Nadia schloss die Augen und sah verschwimmende Nachbilder des Einschlags. Sie öffnete sie wieder und blickte auf den Schirm. Rauchwolken stiegen in den Himmel vor der Morgendämmerung über West-Tharsis auf und stiegen so hoch, dass sie den Schatten des Planeten überragten und von der aufsteigenden Sonne beleuchtet wurden. Es waren riesige Wolkenpilze, die Hüte blaßrosa, die dunkelgrauen Stiele durch Reflektion von oben erhellt. Langsam glitt das Sonnenlicht an den bewegten Stielen herunter, bis sie alle von der jungen Morgensonne getönt waren. Dann driftete die hochragende Reihe der gelben und rötlichen Wolken über einen Himmel von zarter Indigo-Pastellfarbe. Es sah aus wie ein Alptraum von Maxwell-Parrish, zu fremdartig und schön, dass es kaum zu glauben war. Nadia dachte an den letzten Moment des Kabels, jenes Bild der leuchtenden Doppelspirale aus brennenden Diamanten. Wie konnte nur Vernichtung so schön sein? Lag es am Maßstab? Gab es im Volk einen Schatten, den es danach gelüstete? Oder war es nur eine zufällige Kombination der Elemente, der endgültige Beweis, dass Schönheit keine moralische Dimension war? Sie starrte immer wieder auf das Bild und konzentrierte ihren ganzen Willen darauf. Aber sie konnte dem keinen Sinn abgewinnen.
Sax bemerkte: »Das könnte genug zerteilte Materie sein, um einen neuen globalen Staubsturm auszulösen. Obwohl die Netto-Wärmezugabe für das System gewiss beträchtlich sein wird.«
»Halt den Mund!« sagte Maya.
»Jetzt sind wir wohl dran, getroffen zu werden, nicht wahr?« sagte Frank.
Sax nickte.
Sie verließen die Stadtbüros und gingen hinaus in den Park. Alle standen mit den Gesichtern nach Osten gewandt da. Es war still, als ob sie ein religiöses Ritual vollzögen. Es war ein ganz anderes Gefühl als beim Warten auf ein Bombardement durch die Polizei. Aber jetzt war es Vormittag und der Himmel ein staubiges Rosa.
Dann schoss über dem Horizont ein schmerzhaft heller Komet herein. Es gab ein allgemeines Stöhnen und Luftholen, verstärkt durch einzelne Schreie. Die helle weiße Kurve krümmte sich auf sie zu, huschte dann in einem Augenblick über ihre Köpfe und verschwand über dem westlichen Horizont. Man hatte kaum Zeit zum Atmen gehabt, als er vorbeizog. Einen Moment später bebte der Boden leicht unter ihren Füßen, und die Stille wurde durch Rufe unterbrochen. Im Osten schoss eine Wolke hoch und markierte die Höhe des roten Himmelsgewölbes. Sie musste auf zwanzigtausend Meter aufgestiegen sein.
Dann querte ein neues weißes Leuchten den Himmel über ihnen und zog feurige Kometenschweife nach sich. Dann noch eines und noch eines und dann ein ganzer glühender Schwarm. Alles zog über den Himmel und sank über den Osthorizont hinab in das große Marineris. Endlich hörte der Schauer auf. Die Augenzeugen in Cairo waren halb blind und stolperten mit hüpfenden Nachbildern vor den Augen umher. Es war an ihnen vorbeigegangen.
Frank sagte: »Jetzt kommt die UN — bestenfalls.«
»Meinst du, wir sollten … Meinst du, wir sind …?« fragte Maya.
»In ihren Händen sicher?« sagte Frank bissig.
»Vielleicht sollten wir uns wieder zu den Flugzeugen begeben.«
»Bei Tageslicht?«
»Nun, das könnte besser sein, als hier zu bleiben«, entgegnete sie. »Ich weiß nicht, was du meinst, aber ich habe einfach keine Lust, an die Wand gestellt und erschossen zu werden.«
»Wenn sie UNOMA sind, werden sie das nicht tun«, sagte Sax.
»Da wäre ich mir nicht so sicher«, entgegnete Maya. »Auf der Erde halten uns alle für Rädelsführer.«
»Es gibt überhaupt keine Rädelsführer«, sagte Frank.
»Aber sie wollen, dass es welche gibt«, sagte Nadia.
Das ließ sie verstummen.
»Vielleicht hat jemand entschieden«, sagte Sax ruhig, »dass die Dinge leichter zu kontrollieren sind ohne uns.«
Es trafen mehr Meldungen über Einstürze in der anderen Hemisphäre ein, und Sax setzte sich vor die Schirme, um sie zu verfolgen. Ann stand hilflos hinter seiner rechten Schulter, um auch hinzusehen. Schläge dieser Art hatten sich schon immer seit der Vorzeit ereignet; und die Chance, einen live zu beobachten, konnte sie unmöglich versäumen, selbst wenn es sich um das Resultat menschlicher Aktivität handelte.
Während sie beobachteten, drängte Maya sie ständig, etwas zu unternehmen — aufzubrechen, sich zu verstecken, was auch immer, nur überhaupt etwas. Sie beschimpfte Sax und Ann, als die nicht antworteten. Frank ging fort, um zu sehen, was sich auf dem Raumflughafen ereignete. Nadia begleitete ihn bis zur Tür des Stadtbüros. Sie fürchtete, dass Maya recht hatte, mochte aber nicht weiter zuhören. Sie verabschiedete sich von Frank und trat vor das Rathaus, um den Himmel zu betrachten. Es war Nachmittag, und die vorherrschenden Westwinde fingen an, den Tharsis-Hang herunterzuwehen. Sie führten den Staub der Einschläge mit sich. Er sah am Himmel aus wie Rauch, als ob auf der anderen Seite von Tharsis ein Waldbrand wäre. Das Licht in Cairo wurde schwächer, als die Staubwolken die Sonne verdunkelten, und die Polarisation der Kuppel schuf kurze Regenbogen und Nebensonnen, als ob das ganze Gewebe der Welt in kaleidoskopische Teile zerfiele. Zusammengedrängte Massen unter einem brennenden Himmel. Nadia erschauerte. Eine dickere Wolke verdeckte die Sonne. Nadia ging hinein und zurück in die Büros. Sax sagte gerade: »Die Verfinsterung dürfte global werden.«
»Das hoffe ich«, sagte Maya. Sie ging hin und her wie eine Großkatze im Käfig. »Das wird uns helfen zu entkommen.«
»Entkommen wohin?« fragte Sax.
Maya sog die Luft zwischen den Zähnen ein. »Die Flugzeuge sind bereit. Wir könnten zu den Hellespontus Montes zurückkehren, zu den dortigen Habitaten.«
»Sie würden uns sehen.«
Frank erschien bei Sax auf dem Schirm. Er blickte auf sein Armband, und das Bild zitterte. »Ich befinde mich am Westtor mit dem Bürgermeister. Da draußen ist ein Haufen Rover. Wir haben alle Tore verschlossen, weil sie sich nicht identifizieren wollen. Offenbar haben sie die Stadt umrundet und versuchen, die Versorgungszentrale von außen aufzubrechen. Also sollten alle ihre Schutzanzüge anlegen und sich fertig machen, rauszugehen.«
Maya schrie: »Ich habe euch gesagt, wir hätten abhauen sollen!«
»Das hätten wir nicht können«, erwiderte Sax. »Im übrigen sind unsere Chancen vielleicht ebenso gut in einem Durcheinander. Wenn alle gleichzeitig einen Ausbruch machen, könnten sie zahlenmäßig überwältigt werden. Also seht, wenn etwas passiert, wollen wir uns alle am Osttor versammeln, okay?« Er sagte zum Schirm: »Frank, ihr solltet auch dorthin gehen, wenn ihr könnt. Ich werde mit den Robotern der Versorgungsanlage einige Dinge ausprobieren, die diese Leute mindestens bis zur Dunkelheit draußenhalten sollten.«
Es war jetzt drei Uhr nachmittags, obwohl es wie Dämmerung aussah, da der Himmel voller hoher, sich rasch bewegender Staubwolken war. Die Streitkräfte draußen wiesen sich als UNOMA-Polizei aus und forderten Einlass. Frank und der Bürgermeister von Cairo fragten sie nach ihrer Vollmacht seitens UN in Genf und erklärten ein Verbot aller Waffen in der Stadt. Die draußen gaben keine Antwort.
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