In Nadias Ohren summte weißer Lärm. Das hatte ohne Zweifel etwas mit den Ventilatoren des Flugzeugs zu tun. Sie sah die Ventilatoren nach, aber die waren in Ordnung. Die anderen gaben ihr einiges zu tun und ließen sie vor dem Start und nach der Landung allein spazieren gehen. Sie waren selbst bestürzt durch das, was sie bei Carr und Korolyov gefunden hatten, und nicht imstande, sie aufzumuntern, was sie als Erleichterung empfand. Ann und Simon waren immer noch in Sorge um Peter, und Yeli und Sax machten sich Gedanken wegen ihrer Nahrungsbestände, die rapide abnahmen. Die Vorratsfächer der Flugzeuge waren fast leer.
Aber Arkady war tot; und so spielte das alles keine Rolle. Die Revolte erschien Nadia unsinniger denn je, ein unkonzentrierter Wutausbruch, ein Schnitt ins eigene Fleisch, als ob man sich die Nase abhacken würde. Die ganze Welt war zuschanden! Sie bat die anderen, auf einem der allgemeinen Kanäle eine Nachricht zu senden, dass Arkady tot wäre. »Das wird dazu beitragen, dass eher Schluss sein wird«, sagte Sasha.
Sax schüttelte den Kopf und sagte: »Aufstände haben keine Anführer. Außerdem wird es keiner hören.«
Aber einige Tage später war klar, dass einige Leute es doch gehört hatten. Sie empfingen eine Impulsmeldung von Alex Zhalin als Antwort. »Schau, Sax, dies ist nicht die amerikanische Revolution, noch auch die russische oder englische. Dies sind alle Revolutionen zugleich, in einem Land, dessen Areal gleich dem der Erde ist. Und nur ein paar tausend Leute versuchen, ihr Einhalt zu gebieten. Und die meisten von denen befinden sich noch im Weltraum, wo sie eine gute Sicht haben, aber sehr verwundbar sind. Wenn es ihnen also gelänge, eine Macht in Syrtis zu bezwingen, gibt es eine weitere in Hellespontus. Stell dir vor, mit Kräften im Weltraum eine Revolution in Kambodscha stoppen zu wollen, oder auch in Alaska, Japan, Spanien, Madagaskar. Wie willst du das machen? Das kannst du nicht. Ich wünsche nur, dass Arkady Nikelyovich es noch erlebt hätte. Er …«
Die Sendung brach abrupt ab. Vielleicht ein schlechtes Zeichen, vielleicht auch nicht. Aber selbst Alex war es nicht gelungen, eine Note der Entmutigung in seiner Stimme zu verhehlen, als er über Arkady sprach. Das war unmöglich. Arkady war viel mehr gewesen als ein politischer Führer. Er war jedermanns Bruder gewesen, eine Naturkraft, die Stimme des eigenen Gewissens. Das angeborene Empfinden für das, was gut und recht war. Der beste Freund.
Nadia kämpfte sich durch ihren Kummer. Sie half nachts bei der Navigation der Flüge und schlief tagsüber soviel, wie sie konnte. Sie verlor an Gewicht. Ihr Haar wurde schneeweiß. Alle restlichen grauen und schwarzen Haare waren in der Bürste hängen geblieben. Das Sprechen fiel ihr schwer. Sie fühlte sich, als ob sich ihre Kehle und Innereien versteinert hätten. Es war ihr unmöglich zu weinen, und sie wollte für sich sein. Niemand, den sie trafen, hatte Nahrung zu vergeben; die Vorräte wurden immer knapper. Sie stellten einen strengen Rationierungsplan auf mit halben Portionen.
Und am zweiunddreißigsten Tag ihrer Reise von Laßwitz, nach mehr als zehntausend Kilometern, kamen sie nach Cairo am Südrand von Noctis Labyrinthus, genau südlich vom südlichsten Strang des gefallenen Kabels.
Cairo stand de facto unter Kontrolle der UNOMA, da in der Stadt nie jemand etwas anderes behauptet hatte, und wie alle Kuppelstädte schutzlos den Orbitalen Lasern der UNOMA-Polizeischiffe preisgegeben, die im letzten Monat in den Orbit gebracht worden waren. Zu Beginn des Krieges waren die meisten Einwohner Cairos Araber und Schweizer gewesen; und zumindest schienen Angehörige dieser beiden Nationen nur bemüht zu sein, sich aus dem Unheil herauszuhalten.
Aber jetzt waren die sechs Reisenden nicht die einzigen eintreffenden Flüchtlinge. Eine Flut solcher war gerade von Tharsis herunter nach der Verwüstung in Sheffield und dem Rest von Pavonis. Andere trafen von Marineris ein durch das Labyrinth von Noctis. Die Stadt war vierfach überbelegt. Menschenmassen wohnten und schliefen in den Straßen und Parks. Die Versorgungszentrale war kritisch überlastet. Nahrung und Luft gingen zu Ende.
Den sechs Reisenden erzählte dies eine Flughafenangestellte, die immer noch stur ihren Dienst tat, obwohl keine Shuttles mehr verkehrten. Nachdem sie sie zu Parkplätzen zwischen einer großen Flugzeugflotte am Ende der Rollbahn geleitet hatte, sagte sie ihnen, sie sollten die Schutzkleidung anlegen und die Strecke bis zur Stadtmauer zu Fuß gehen. Es machte Nadia schrecklich nervös, die zwei 16Ds zurückzulassen und in eine Stadt zu gehen. Sie war auch nicht beruhigt, nachdem sie durch die Schleuse gegangen waren, und sie sah, dass die meisten drinnen Schutzanzüge trugen und ihre Helme dabei hatten für den Fall eines etwaigen Druckverlustes.
Sie gingen zu den Stadtbüros und fanden dort Frank und Maya vor, ebenso Mary Dunkel und Spencer Jackson. Sie begrüßten einander erleichtert. Aber es war keine Zeit, um sich über ihre verschiedenen Abenteuer auszusprechen. Frank war vor einem Bildschirm beschäftigt und sprach, nach dem Ton zu urteilen, mit jemandem im Orbit oder sogar mehreren. Er wehrte ihre Umarmungen ab und winkte nur kurz, um ihr Eintreffen zu bestätigen. Offenbar steckte er in einem funktionierenden Nachrichtensystem oder sogar mehreren, denn er blieb sechs Stunden hintereinander vor dem Schirm und sprach mit dem einen oder anderen Gesicht. Er machte nur eine Pause, um einen Schluck Wasser zu trinken oder einen anderen Anruf zu tätigen, ohne für seine alten Gefährten einen Blick zu erübrigen. Er schien sich in einem Zustand ständiger Raserei zu befinden, denn seine Kiefermuskeln arbeiteten rhythmisch. Im übrigen war er in seinem Element. Er erklärte und dozierte, schmeichelte und drohte, fragte und machte dann ungeduldig Bemerkungen zu den erhaltenen Antworten. Mit anderen Worten, er wendete sich und verhandelte in seiner alten Art, aber mit einer bitteren und sogar erschrockenen Note, als ob er nach einem erschöpfenden Spaziergang auf einer Klippe über seinen Rückweg zum Boden diskutieren würde.
Als er schließlich auflegte, lehnte er sich in seinem Sessel zurück und seufzte theatralisch. Dann stand er steif auf und kam herüber, um sie zu begrüßen. Er legte eine Hand kurz Nadia auf die Schulter. Im übrigen war er allen gegenüber brüsk und völlig desinteressiert daran, wie sie es geschafft hatten, bis Cairo zu gelangen. Er wollte nur wissen, wen sie getroffen hatten und wo, und wie gut es diesen verstreuten Gruppen ginge und was diese vorhätten. Ein paar Mal ging er an seinen Schirm zurück und setzte sich mit diesen Gruppen unmittelbar in Verbindung, nachdem er ihren Standort erfahren hatte — eine Fähigkeit, die die Reisenden erstaunte, da sie angenommen hatten, alle wären so abgeschlossen gewesen, wie sie es waren. »UNOMA-Verbindungen«, erklärte Frank und fuhr mit einer Hand über sein dunkles Kinn. »Die halten für mich einige Kanäle offen.«
»Warum?« fragte Sax.
»Weil ich bestrebt bin, dem Einhalt zu gebieten. Ich bemühe mich um einen Waffenstillstand und dann eine Generalamnestie. Danach einen Wiederaufbau unter Beteiligung aller.«
»Aber unter wessen Leitung?«
»Natürlich unter der Leitung der UNOMA. Und der nationalen Büros.«
»Aber die UNOMA stimmt nur dem Waffenstillstand zu«, mutmaßte Sax, »während die Rebellen nur der Generalamnestie zustimmen.«
Frank nickte kurz. »Und keine von beiden sind für einen Wiederaufbau unter Beteiligung aller. Aber die gegenwärtige Lage ist so schlimm, dass sie mitmachen könnten. Vier weitere Wasserlager sind in die Luft geflogen, seit das Kabel herunterkam. Die liegen alle am Äquator. Manche Leute sprechen von Ursache und Wirkung.«
Ann schüttelte dabei den Kopf, und Frank schien darüber erfreut zu sein. »Ich bin ziemlich sicher, dass sie aufgebrochen wurden. Eines haben sie an der Mündung von Chasma Borealis aufgebrochen. Das strömt aus in die Dünen von Borealis.«
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