An diesem Morgen landeten sie auf der Rollbahn an der Margaritifer-Station. Als sie aus ihren Flugzeugen stiegen, kamen ihnen ein Dutzend Männer und Frauen entgegen, deren Willkommen sehr enthusiastisch ausfiel. Sie drückten und küssten die Reisenden immer wieder und lachten dabei. Die sechs drängten sich zusammen, hierdurch mehr alarmiert als durch die vorsichtige Begrüßung am Tag zuvor. Immerhin versäumten die Leute nicht, Laser-Leser über ihre Handgelenke zu führen, um sie zu identifizieren. Das war beruhigend. Als aber die KIs bestätigten, dass sie in der Tat sechs der Ersten Hundert empfingen, brachen sie in Hochrufe aus und fuhren in allerbester Stimmung fort. Als die sechs dann durch eine Schleuse in die Messe geführt wurden, gingen einige ihrer Gastgeber sofort zu einigen kleinen Tanks und atmeten Proben von etwas ein, das sich als Sauerstoffnitrat und ein Pandorphin-Aerosol herausstellte, wonach sie sich kaputtlachten.
Einer von ihnen, ein schlanker Amerikaner mit frischem Gesicht, stellte sich vor. »Ich bin Steve. Ich habe mit Arkady in Phobos 12 trainiert und mit ihm auf Clarke gearbeitet. Die meisten von uns hier haben mit ihm auf Clarke gearbeitet. Wir waren in Schiaparelli, als die Revolution begann.«
»Weißt du, wo Arkady ist?« fragte Nadia.
»Zuletzt hörten wir, dass er in Carr wäre, aber jetzt ist er aus dem Netz heraus, wie es wohl sein sollte.«
Ein großer hagerer Amerikaner trat zu Nadia, legte ihr die Hand auf die Schulter und sagte: »Wir sind nicht immer so.« Dabei lachte er.
»O nein!« stimmte Steve zu. »Aber heute ist ein Feiertag! Habt ihr nicht gehört?«
Eine kichernde Frau riss ihr Gesicht vom Tisch hoch und schrie: »Unabhängigkeitstag! Der Vierzehnte!«
»Seht her!« sagte Steve und zeigte auf ihren Fernseher.
Auf dem Schirm flimmerte ein Bild aus dem Weltraum; und plötzlich fing die ganze Gruppe an zu schreien und zu jubeln. Sie hatten, wie Steve erklärte, auf einen codierten Kanal von Clarke geschaltet; und obwohl sie nicht seine Mitteilungen entschlüsseln konnten, hatten sie ihn als Leuchtsignal benutzt, um das optische Teleskop ihrer Station auszurichten. Das Bild aus dem Teleskop wurde auf den Fernseher in der Messe übertragen und war nun da. Der schwarze Himmel und die Sterne, die sie alle zu erkennen gelernt hatten. Der quadratische Asteroid mit dem Kabel ragte davor auf. »Passt jetzt auf!« riefen sie den verwirrten Reisenden zu.
»Aufpassen?«
Sie heulten wieder auf; und einige fingen einen Countdown an, von hundert abwärts. Manche atmeten außer Stickoxid auch Helium ein. Sie standen unter dem großen Bildschirm und sangen: »We’re off to see the wizard, the wonderful wizard of Oz!« Und so weiter das ganze Lied von dem Zauberer in dem alten Märchenfilm …
Nadia erschauerte. Der laute Countdown wurde immer heftiger gebrüllt und erreichte ein gekreischtes: »Null!«
Zwischen dem Asteroiden und dem Kabel erschien eine Lücke. Clarke verschwand sofort aus dem Bild. Das Kabel, filigranhaft zwischen den Sternen, fiel fast ebenso schnell aus dem Blickfeld.
Wilde Hurrarufe erfüllten den Raum, wenigstens für einen Augenblick. Aber es erstickte ruckartig, als einige der Feiernden durch Ann abgelenkt wurden, die mit beiden Fäusten vor dem Mund aufsprang.
»Er wird jetzt bestimmt unten sein!« rief Simon Ann über das Getöse zu. »Er ist bestimmt unten. Es sind Wochen her, dass er angerufen hat.«
Langsam wurde es ruhig. Nadia fand sich an Anns Seite, gegenüber von Simon und Sasha. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Ann war starr, und ihre Augen traten schrecklich hervor.
»Wie habt ihr das Kabel zerbrochen?« fragte Sax.
»Nun, das Kabel kann kaum zerbrochen werden«, erwiderte Steve.
»Habt ihr das Kabel zerbrochen?« rief Yeli.
»Nein. Wir haben nur das Kabel von Clarke abgetrennt. Aber der Effekt ist der gleiche. Das Kabel ist unterwegs nach unten.«
Die Gruppe brach wieder in Hochrufe aus, allerdings etwas schwächer. Steve erklärte den Reisenden über den Lärm hinweg: »Das Kabel selbst ist nicht zu durchtrennen. Es besteht aus Graphitfäden mit einem Diamantschwammgemisch in einer Doppelspirale darin. Und sie haben geschickte Abwehrstationen gegen Steine alle hundert Kilometer und an den Wagen enorme Sicherheitsvorkehrungen. Darum schlug Arkady vor, an Clarke selbst zu arbeiten. Seht, das Kabel verläuft direkt durch das Gestein zu den Fabriken im Innern, und sein eigentliches Ende war sowohl physisch wie magnetisch am Fels des Asteroiden befestigt. Aber wir sind mit einem Haufen unserer Roboter in einer Fracht von Material aus dem Orbit gelandet, haben uns in das Innere gegraben und thermische Bomben außen am Gehäuse des Kabels angebracht und um den magnetischen Generator herum. Dann haben wir heute alle auf einmal gezündet; und das Gestein wurde zur gleichen Zeit flüssig, wie der Magnet unterbrochen war. Und ihr wisst, dass Clarke losgelöst wie eine Gewehrkugel davonschießt, so dass er in dieser Weise vom Kabelende abrutschte. Und wir haben es zeitlich so eingerichtet, dass er sich direkt von der Sonne weg bewegt und auch um zwanzig Grad aus der Ebene der Ekliptik heraus. Also wird es verdammt schwer sein, ihn zu verfolgen. Jedenfalls hoffen wir das.«
»Und das Kabel selbst?« fragte Sasha.
Es gab wieder laute Jubelrufe, und Sax antwortete ihr im nächsten ruhigen Moment. »Es fällt herunter.« Er war an der Computerkonsole und tippte, so schnell er konnte. Aber Steve rief ihm zu: »Wir haben die Daten für den Abstieg, wenn du sie haben willst. Das ist ziemlich komplex, eine Menge partieller Differentialgleichungen.«
»Ich weiß«, sagte Sax.
»Ich kann es nicht glauben«, sagte Simon. Er hatte immer noch die Hände an Anns Arm und sah sich mit grimmigem Gesicht bei der Meute um. »Der Aufprall wird viele Menschen töten!«
»Wahrscheinlich nicht«, antwortete einer von ihnen. »Und die es erwischt, das werden hauptsächlich UN-Polizisten sein, die den Aufzug zu benutzen pflegten, um herunterzukommen und hier auf dem Boden Menschen umzubringen.«
»Er ist wahrscheinlich seit einer oder zwei Wochen unten«, wiederholte Simon nachdrücklich für Ann, die ganz blass war.
»Vielleicht«, sagte sie.
Einige Leute hörten das und wurden ruhiger. Andere wollten nichts hören und feierten weiter.
»Wir wussten es nicht«, sagte Steve zu Ann und Simon. Seine triumphierende Miene war verschwunden. Er machte ein besorgtes Gesicht. »Hätten wir es gewusst, hätten wir versucht, mit ihm Kontakt aufzunehmen. Aber wir wussten es nicht. Das tut mir leid. Hoffentlich …« — er schluckte — »hoffentlich war er nicht da oben.«
Ann ging zu ihrem Tisch zurück und setzte sich hin. Simon trieb sich besorgt in ihrer Nähe herum. Keiner von beiden schien etwas von dem gehört zu haben, was Steve gesagt hatte.
Der Funkverkehr nahm sofort zu, als die Verantwortlichen der restlichen Nachrichtensatelliten die Meldung über das Kabel erhielten. Einige der feiernden Rebellen machten sich daran, diese Nachrichten zu verfolgen und aufzuzeichnen. Andere feierten weiter.
Sax war noch in die Gleichungen auf dem Schirm vertieft. »Geht nach Osten«, bemerkte er.
»Das ist richtig«, sagte Steve. »Es wird erst in der Mitte einen großen Bogen machen, weil der untere Teil es herunterzieht; und dann wird der Rest folgen.«
»Wie schnell?«
»Schwer zu sagen; aber wir denken etwa vier Stunden für die erste Runde und dann noch eine Stunde für die zweite.«
»Zweite Runde!« sagte Sax.
»Nun, du weißt, das Kabel ist siebenunddreißigtausend Kilometer lang, und der Äquatorumfang beträgt einundzwanzigtausend. Also wird es fast zweimal herumreichen.«
»Die Leute auf dem Äquator sollten sich lieber rasch in Bewegung setzen«, sagte Sax.
»Nicht genau am Äquator«, korrigierte Steve. »Die Phobos-Oszillation wird es zu einem gewissen Grad vom Äquator wegschwingen lassen. Das ist auch am schwierigsten zu berechnen, weil es davon abhängt, an welcher Stelle das Kabel in seiner Oszillation war, als es zu fallen anfing.«
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