Das war ein neues und sehr eigenartiges Gefühl, das in den folgenden Tagen noch stärker wurde, als sich nichts änderte. Es wurde ihnen klar, dass sie weitermachen mussten, während alle ihre Fernseh- und Funkgeräte durch weißes Rauschen überdeckt waren. Das war für sie eine einzigartige Erfahrung, nicht nur auf dem Mars, sondern in ihrem gesamten Leben. Und sie merkten bald, dass der Verlust elektronischer Information wie der Verlust eines ihrer Sinne war. Nadia blickte dauernd auf ihr Armbandgerät, auf dem vor dieser Panne Arkady jede Sekunde hätte erscheinen können. Auf dem jeder Beliebige der Ersten Hundert hätte auftauchen und sich für sicher erklären können. Und dann blickte sie von dem kleinen leeren Quadrat auf das Land um sie herum, das plötzlich so viel größer, wilder und leerer war als je zuvor. Es war erschreckend. Nichts als zerklüftete rostfarbene Hügel, so weit das Auge reichte, selbst wenn man in der Dämmerung in den Flugzeugen saß und nach einem der kleinen Landeplätze Ausschau hielt, die auf der Karte verzeichnet waren, und die, wenn man sie ausgemacht hatte, wie kleine Bleistifte aussahen. Eine so große Welt! Und sie waren in ihr allein. Selbst auf Navigation konnte man sich nicht mehr verlassen. Sie blieb nicht den Computern überlassen. Man musste Straßentransponder benutzen und Koppelnavigation und visuelle Bezugspunkte, indem sie ängstlich in der Morgendämmerung die nächste Landebahn in der Wildnis suchten. Einmal brauchten sie weit bis in den Vormittag, um einen Platz nahe Dao Vallis zu finden. Danach entschloss Yeli sich, Pisten zu folgen. Er flog in der Nacht tief und beobachtete das kleine silbrige Band, welches sich unter ihnen im Sternenlicht dahinschlängelte, während er die Transpondersignale mit den Karten verglich.
Und so schafften sie es, in das weite Tiefland des Hellas-Beckens hinunterzufliegen, indem sie der Piste nach Low Point Lakefront folgten. Dann kam im roten Licht des Horizonts und den langen Schatten des Sonnenaufgangs ein See aus zerbrochenem Eis in Sicht. Er füllte den ganzen westlichen Teil von Hellas. Ein See!
Die Piste, der sie gefolgt waren, führte direkt ins Eis. Die gefrorene Küstenlinie war ein gezacktes Wirrwarr von Eisplatten, die schwarz oder weiß oder sogar blau oder jadegrün waren. Alles zusammen aufgehäuft, als ob eine Gezeitenwoge die Schmetterlingssammlung des Großen Mannes zerbrochen und über einem unfruchtbaren Strand ausgeschüttet hätte. Dahinter zog sich der gefrorene See bis über den Horizont dahin.
Nach einigen Sekunden des Schweigens sagte Ann: »Sie müssen das Wasserlager von Hellesponrus zerbrochen haben. Das war wirklich groß, und es würde bis Low Point hin auslaufen.«
»Also muss das Mohole Hellas überflutet sein«, sagte Yeli.
»Richtig! Und das Wasser auf seinem Boden wird sich erwärmen. Wahrscheinlich so weit, dass die Oberfläche des Sees nicht gefriert. Schwer zu sagen. Die Luft ist zwar kalt, aber durch die Konvektion könnte es eine offene Stelle geben. Falls nicht, dann wird es bestimmt dicht unter der Oberfläche flüssig sein. Es muss wirklich starke Konvektionsströme geben. Aber die Oberfläche …«
»Das werden wir gleich sehen«, sagte Yeli. »Wir werden darüberfliegen.«
Nadia wandte ein: »Wir sollten landen.«
»Nun, das werden wir, sobald wir können. Außerdem scheint sich die Lage etwas zu beruhigen.«
»Das kommt nur daher, dass wir von den Nachrichten abgeschnitten sind.«
»Hmm.«
Es stellte sich heraus, dass sie die ganze Strecke quer über den See fliegen mussten, um auf der anderen Seite zu landen. Es war ein unheimlicher Morgen, tief über eine zerrissene Fläche zu fliegen, die an das Eismeer der Erde erinnerte, nur dass hier die Eisströme die Landschaft wie die offene Tür einer Tiefkühltruhe bereiften und Farben durch das ganze Spektrum aufwiesen, natürlich mit Schwerpunkt auf Rot. Aber dadurch kamen das gelegentliche Blau und Grün und Gelb nur noch besser heraus als Partikel eines immensen chaotischen Mosaiks.
Und dort im Zentrum, wo sich selbst in der Höhe, in der sie flogen, der See aus Eis nach jeder Richtung bis zum Horizont erstreckte, stand eine gewaltige Dampfwolke, die Tausende von Metern in die Luft aufstieg. Als sie diese vorsichtig umkreisten, sahen sie, dass das Eis darunter in Berge und Schollen zerbrochen war, die dicht gepackt in sprudelndem dampfendem schwarzem Wasser schwebten. Die schmutzigen Berge rotierten, stießen zusammen, überschlugen sich, und dicke Fluten schwarzen Wassers spritzten hoch. Wenn diese Wände hinunterfielen, breiteten sich in konzentrischen Kreisen Wellen aus, die alle Berge, die vorbeizogen, auf und ab hüpfen ließen.
In beiden Flugzeugen herrschte Stille, während die Insassen dieses für den Mars unpassende Schauspiel betrachteten. Schließlich, nachdem sie zweimal schweigend die Dampfsäule umrundet hatten, flogen sie in westlicher Richtung weiter über die zerrissene Einöde. »Sax muss diese Revolution lieben«, sagte Nadia von neuem und brach damit das Schweigen. »Meint ihr, dass er ein Teil von ihr ist?«
»Das bezweifle ich«, sagte Ann. »Er würde wahrscheinlich nicht seine Investition auf der Erde riskieren. Auch nicht einen ordentlichen Fortschritt des Projekts oder eine gewisse Kontrolle. Aber ich bin sicher, dass er die Revolution danach beurteilt, wie sie das Terraformen beeinflusst. Nicht danach, wer stirbt oder was ruiniert wird oder wer hier die Macht übernimmt. Nur inwiefern sie das Projekt beeinflusst.«
»Ein interessantes Experiment«, sagte Nadia.
»Aber schwer zu gestalten«, gab Ann zu bedenken. Sie mussten beide lachen.
Wenn man vom Teufel spricht … Sie landeten westlich des neuen Sees (Lakefront stand unter Wasser) und verbrachten den Tag mit Ausruhen. Als sie in der nächsten Nacht der Piste nordwestlich in Richtung auf Marineris folgten, kamen sie über einen Transponder, der in Morsezeichen SOS blinkte. Sie umkreisten ihn bis zur Morgendämmerung und landeten direkt auf der Piste, gleich neben einem defekten Rover. Und dicht dabei war Sax in einem Schutzanzug. Er fummelte an dem Transponder herum und sendete manuell SOS.
Sax stieg in ihr Flugzeug und nahm den Helm ab, zwinkernd und mit zusammengepressten Lippen, so ausdruckslos wie gewohnt. Müde, aber er sah aus wie die Ratte, die den Kanarienvogel gefressen hat, wie Ann später zu Nadia sagte. Er sprach wenig. Er war vor drei Tagen auf der Piste hängen geblieben mit dem Rover, der sich nicht mehr bewegte. Die Piste war tot, und er hatte keinen Reservetreibstoff. Lakefront war in der Tat überschwemmt. »Ich habe es in Richtung Cairo verlassen, um Frank und Maya zu treffen«, berichtete er, »weil sie denken, es wäre hilfreich, wenn die Ersten Hundert alle zusammenkommen würden, um eine gewisse Autorität darzustellen für Verhandlungen mit der UNOMA-Polizei und sie zu veranlassen, aufzuhören.« Er war gestartet und befand sich in den Vorbergen von Hellespontus, als die thermische Wolke des Mohole von Low Point plötzlich gelb geworden war und zwanzigtausend Meter in den Himmel aufstieg. Er erklärte: »Sie verwandelte sich in eine Pilzwolke wie bei einer Atomexplosion, aber mit einer kleineren Kappe. Der Temperaturgradient ist in unserer Atmosphäre nicht steil.«
Danach war er umgekehrt und an den Rand des Beckens gefahren, um etwas von der Überschwemmung zu sehen. Das aus dem Norden ins Becken herunterfließende Wasser war schwarz gewesen, wurde aber allmählich weiß, indem es fast sofort in großen Stücken zu Eis wurde, außer bei Lakefront, wo es geblubbert hatte »wie Wasser auf dem Herd«, sagte er. »Die Thermodynamik war dort einige Zeitlang recht kompliziert, aber das Wasser kühlte das Mohole ziemlich schnell ab, und …«
»Halt den Mund, Sax!« sagte Ann.
Sax hob die Augenbrauen und machte sich daran, den Radioempfänger des Flugzeugs zu verbessern.
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