Sie flogen weiter, jetzt zu sechst. Sasha und Yeli, Ann und Simon, Nadia und Sax. Sechs der Ersten Hundert, zusammengerückt wie durch Magnetismus. Es gab in dieser Nacht viel Gesprächsstoff, und sie tauschten Geschichten, Information, Gerüchte und Spekulationen aus. Aber Sax konnte nur wenig Konkretes zu dem Gesamtbild beitragen. Er war von den Nachrichten abgeschnitten gewesen, genau wie sie. Nadia erschauerte wieder, wie über einen verlorenen Sinn. Sie erkannte, dass dieses Problem nicht verschwinden würde.
Am nächsten Morgen landeten sie bei Sonnenaufgang auf dem Behelfsflugplatz von Bakhuysen. Dort trafen sie auf ein Dutzend Leute mit Betäubungsgewehren der Polizei. Diese kleine Schar hielt die Läufe der Waffen nach unten, eskortierte sie aber mit sehr wenig Zeremonie in den Hangar, der sich im Innern der Kraterwand befand.
In dem Hangar waren noch mehr Leute, und es wurden immer noch mehr. Schließlich waren es etwa fünfzig Personen, dreißig davon Frauen. Sie waren höflich und sogar freundlich, als sie die Identität der Reisenden erfuhren. »Wir mussten uns nur vergewissern, mit wem wir es zu tun hatten«, sagte eine große Frau mit starkem Yorkshire-Akzent.
»Und wer seid ihr?« fragte Nadia frech.
»Wir kommen von Korolyov Prime«, sagte sie. »Wir sind entkommen.«
Sie führten die Reisenden in ihren Speisesaal und bewirteten sie mit einem üppigen Frühstück. Als alle Platz genommen hatten, ergriffen die Leute Magnesiumkrüge und reichten sie über den Tisch, um ihren Nachbarn Apfelsaft einzugießen. Die Nachbarn taten desgleichen, bis ein jeder bedient war. Dann aßen sie Pfannkuchen und tauschten Geschichten aus. Die Gruppe aus Bakhuysen war am ersten Tag der Revolte aus Korolyov entflohen und hatte sich in den Süden auf den Weg gemacht in der Absicht, bis hin zur südlichen Polgegend zu ziehen. »Das ist ein großer Rebellen-Sammelplatz«, sagte ihnen die Yorkshire-Frau (die, wie sich herausstellte, eigentlich Finnin war.) »Dort gibt es diese riesigen Terassenbänke, die praktisch lange Höhlen mit offenen Flanken bilden, meistens einige Kilometer lang und recht weit. Perfekt, um außer Satellitensicht zu bleiben und doch etwas Luft zu bekommen. Die richten da unten eine Art von Leben wie die Höhlenbewohner von Cro-Magnon ein. Wirklich reizend.« Offenbar waren diese langen Höhlen in Korolyov berühmt gewesen; und viele Gefangene hatten sich dort zum Rendezvous verabredet, falls es zu einem Ausbruch kommen sollte.
»Ihr haltet also zu Arkady?« fragte Nadia.
»Zu wem?«
Es stellte sich heraus, dass sie Anhänger des Biologen Schnelling waren, der wohl eine Art von rotem Mystiker gewesen war und in Korolyov mit ihnen festgehalten wurde, wo er vor ein paar Jahren gestorben war. Er hatte über Armbandgeräte Vorlesungen gehalten, die auf Tharsis sehr beliebt gewesen waren; und nach seiner Einäscherung waren viele Gefangene in Korolyov seine Schüler geworden. Anscheinend hatte er sie eine Art von Mars-Kommunalismus gelehrt, der auf Prinzipien der lokalen Biochemie beruhte. Die Gruppe in Bakhuysen war sich darüber nicht ganz klar. Aber jetzt waren sie draußen und hofften, mit anderen Rebellenkräften Kontakt aufzunehmen. Es war ihnen gelungen, mit einem verborgenen Satelliten Verbindung zu bekommen, der auf gerichtete Mikroimpulse programmiert war. Sie hatten es auch geschafft, kurz einen Kanal abzuhören, der von Sicherheitskräften auf Phobos betrieben wurde. Sie sagten, Phobos diene als Überwachungs- und Angriffsbasis für transnationale und UNOMA-Polizeikräfte, die kürzlich mit der letzten regulären Fähre eingetroffen waren. Diese gleichen Kräfte hatten die Kontrolle über den Aufzug, über Pavonis Mons und den größten Teil von Tharsis übernommen. Das Observatorium auf Olympus Mons hatte rebelliert, war aber durch einen Raketenangriff aus dem Orbit zerstört worden. Und transnationale Sicherheitskräfte hatten den größten Teil der Großen Böschung besetzt und den Planeten praktisch in zwei Teile geschnitten. Und der Krieg auf der Erde schien noch anzudauern, obwohl sie den Eindruck hatten, dass es am heißesten in Afrika, Spanien und an der US-mexikanischen Grenze tobte.
Den Versuch, nach Pavonis zu gelangen, hielten sie für zwecklos. »Sie werden euch entweder einsperren oder umbringen«, wie Sonja es ausdrückte. Als aber die sechs Reisenden beschlossen, es dennoch zu versuchen, erhielten sie genaue Hinweise für eine Zuflucht, die einen Nachtflug entfernt im Westen gelegen war. Das war die Wetterstation Southern Margarinfer, wie ihnen die Bakhuysenleute sagten. Besetzt von Bogdanovisten.
Nadias Herz hüpfte, als sie dieses Wort hörte. Sie konnte nicht anders. Aber Arkady hatte viele Freunde und Gefolgsleute, und keiner von denen schien zu wissen, wo er selbst sich aufhielt. Aber Nadia konnte an diesem Tage nicht schlafen. Ihr Magen war wieder wie ein Knoten. Sie war an diesem Abend bei Sonnenuntergang froh, wieder zu den Flugzeugen zu gehen und zu starten. Die Rebellen von Bakhuysen brachten sie auf den Weg, so beladen mit Hydrazin und Gas und gefriergetrockneter Nahrung, dass sie nur mühsam vom Boden freikamen.
Ihre Nachtflüge hatten einen eigenartigen rituellen Aspekt gewonnen, als ob sie dabei wären, eine neue und anstrengende Pilgerfahrt zu erfinden. Die Flugzeuge waren so leicht, dass sie von den vorherrschenden Westwinden stark geschüttelt wurden und manchmal zehn Meter wild auf und ab hüpften. Daher war es unmöglich, lange zu schlafen. Ein plötzliches Fallen oder Aufsteigen, und man war wieder wach in der dunklen kleinen Kabine, wo man aus dem Fenster auf den schwarzen Himmel und die Sterne in der Höhe oder die lichtlose Welt unten blickte. Es wurde kaum gesprochen. Die Piloten waren nach vorn gebeugt und verwendeten ihre Energie darauf, mit dem anderen Flugzeug in visuellem Kontakt zu bleiben. Die Flugzeuge brummten dahin, und die Winde schnitten über ihre langen, biegsamen Schwingen. Draußen herrschten sechzig Grad Kälte, und die Luft hatte nur hundertfünfzig Millibar und war giftig. Und es gab keine Zuflucht auf dem schwarzen Planeten da unten auf viele Kilometer in jeder Richtung. Nadia pflegte einige Zeit zu steuern, ging dann nach hinten, drehte und krümmte sich zusammen im Versuch, etwas Schlaf zu finden. Oft erinnerte sie das Klicken eines Transponders im Radio in Verbindung mit ihrer allgemeinen Situation an die Zeit, da sie und Arkady dem Sturm in der Arrowhead getrotzt hatten. Sie sah ihn dann wieder, wie er mit rotem Bart und nackt durch das zerbrochene Innere des Luftschiffs geschritten war und Verkleidung abriss, um sie über Bord zu werfen, wobei schwebende Partikel um ihn einen Nimbus bildeten. Danach riss sie die 16D wieder wach, und sie musste mit dem Unbehagen ihrer ewigen Angst kämpfen. Es hätte ihr geholfen, wieder das Steuer zu übernehmen, aber Yeli wollte seinen Teil als Pilot, wenigstens in den ersten Stunden seiner Wache. Sie konnte ihm also nur helfen bei der Ausschau nach dem anderen Flugzeug, das sich immer einen Kilometer rechts von ihnen befand, wenn alles stimmte. Sie hatten mit ihm auch gelegentlich Funkkontakt, aber in Form von Mikroimpulsen, die sie auf ein Minimum beschränkten. Stündliche Kontrollen oder Rückfragen, wenn einer zurückblieb. In der toten Nacht schien dies manchmal alles zu sein, was ein jeder von ihnen je getan hatte. Es war schwer, sich daran zu erinnern, wie das Leben vor der Revolte gewesen war. Und wie lange war das her? Vierundzwanzig Tage? Drei Wochen, obwohl es sich wie fünf Jahre anfühlte.
Und wenn sich dann der Himmel hinter ihnen zu röten begann, wenn hohe Cirruswolken purpurn wurden, rot, karmesin, lavendel und dann schnell in einem rosigen Himmel die Farbe von Metallspänen annahmen; und wenn sich die unglaubliche Fontäne der Sonne über einen Felsenrand ergoss, suchten sie, während sie geisterhaft über die steinige und im Dunkeln liegende Landschaft glitten, nach Zeichen einer Piste. Nach der ewigen Nacht schien es unmöglich, dass sie überhaupt erfolgreich navigiert hatten. Aber da unten lag die schimmernde Piste, auf der sie in einem Notfall direkt landen würden. Und die Transponder ließen sich alle einzeln identifizieren und markierten Punkte auf der Karte. Ihre Navigation war immer sicherer, als es schien. Also erspähten sie jeden Morgen einen Behelfslandeplatz in den Schatten voraus, einen willkommenen gelben Strich, der vollkommen eben war. Sie glitten hinunter, setzten auf, bremsten und rollten zu irgendwelchen Einrichtungen, die sie finden konnten, hielten die Motore an und sanken in ihre Sitze zurück. Sie genossen das seltsame Fehlen von Vibrationen und die Stille eines weiteren Tages.
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