Aber Ann studierte den Geneva-Vorsprung. Er war das letzte Ende eines viel größeren Lavadeichs, dessen größter Teil in dem Plateau im Süden begraben war. Der Deich war einer von mehreren — der nahe gelegenen Melas Dorsa, der Teils Dorsa weiter östlich und der Solis Dorsa weiter westlich — alle rechtwinklig zu den Marineris-Canyons und alle geheimnisvollen Ursprungs. Aber als die Südwand von Melas Chasma zurückgewichen war durch Einsturz und Winderosion, wurde der harte Fels vines Deichs freigelegt. Und dies war der Geneva-Vorsprung, der den Schweizern eine perfekte Rampefür ihre Straße die Canyonwand hinunter geliefert hatte. Jetzt verschaffte sie Ann eine angenehm frei liegende Basis für einen Deich. Es war möglich, daß dieser und alle zugehörigen Deiche durch konzentrische Risse infolge des Aufstiegs von Tharsis entstanden waren. Aber sie könnten auch viel älter sein, Überreste einer Spreizung von Basis und Breite infrühester Vorzeit, als der Planet sich noch aufgrund seiner inneren Wärme ausdehnte. Wenn man den Basalt am Fuß des Deichs datieren könnte, würde das helfen, die Frage in dem einen oder anderen Sinne zu beantworten.
Also fuhr Ann in einem kleinen Felswagen langsam die von Reif bedeckte Straße hinunter. Man würde die Bewegung des Wagens aus dem Weltraum recht gut erkennen können; aber das machte ihr nichts aus. Sie war im vorigen Jahr durch die ganze südliche Hemisphäre gefahren ohne Vorsichtsmaßnahmen, außer wenn sie sich Cojotes versteckten Zufluchtsplätzen zwecks Versorgung näherte. Es war nichts passiert.
Sie erreichte den Boden des Vorsprungs, nur eine kurze Strecke von dem Strom aus Eis und Gestein entfernt, der jetzt den Boden des Canyons blockierte. Sie stieg aus und klopfte mit einem Geologenhammer am Boden des letzten Straßeneinschnittes herum. Sie kehrte dem riesigen Gletscher den Rücken zu und machte sich nichts daraus. Sie war auf den Basalt konzentriert. Der Deich stieg vor ihr in die Sonne auf, eine perfekte Rampe zur Spitze der Klippe, etwa drei Kilometer über ihr und fünfzig Kilometer im Süden. Auf beiden Seiten des Vorsprungs krümmte sich die riesige südliche Klippe von Melas Chasma in großen Einbuchtungen zurück und dann wieder nach außen zu kleineren Vorsprüngen — ein kleiner Punkt auf dem fernen Horizont zur Linken und ein massives Vorgebirge etwa sechzig Kilometer zur Rechten, welches Ann Cape Solis nannte.
Vor langer Zeit hatte Ann vorausgesagt, daß stark beschleunigte Erosion jeder Anreicherung der Atmosphäre mit Wasser folgen würde; und auf beiden Seiten des Vorsprungs ließ die Klippe erkennen, daß sie recht gehabt hatte. Die Einbuchtung zwischen dem Geneva-Sporn und Cape Solis war immer tief gewesen; aber jetzt zeigten einige frische Erdrutsche, daß sie rasch noch tiefer wurde. Aber selbst die jüngsten Narben waren ebenso wie der Rest der Riefen und Schichtung der Klippe mit Reif bestäubt. Die große Wand hatte die Farbe von Zion oder Bryce nach Schneefall — Rot mit Weiß gestreift.
Auf dem Boden des Canyons war ein sehr niedriger schwarzer Grat zu sehen, etwa zwei Kilometer westlich des Geneva-Vorsprungs und parallel zu ihm. Bei näherem Zusehen schien die nicht mehr als brusthohe Erhebung wirklich aus dem gleichen Basalt zu bestehen wie der Vorsprung. Ann nahm ihren Hammer und schlug eine Probe ab.
Eine Bewegungfiel ihr ins Auge; und sie sprang hoch, um zu schauen. Cape Solis fehlte die Nase. Eine rote Wolke blähte sich von seinem Fuß auf.
Ein Erdrutsch! Sofort startete sie die Stoppuhr auf ihrem Armband, zog dann die binokulare Maske über ihre Gesichtsscheibe und hantierte mit der Schärfe, bis das ferne Bergland klar in ihrem Gesichtsfeld stand. Der von dem Abbruch freigelegte Fels war schwärzlich und schien fast vertikal zu sein. Vielleicht eine sich abkühlende Fehlstelle im Deich, falls auch das ein Deich war. Es sah aus wie Basalt. Und es schien, als ob sich der Bruch über die ganze Höhe der Klippe erstreckt hätte, ihre ganzen vier Kilometer.
Die Vorderseite der Klippe verschwand in der aufsteigenden Staubwolke, die sich aufblähte, ah wäre eine riesige Bombe hochgegangen. Einem entfernten, fast subsonischen Knall folgte ein schwaches Dröhnen wie entfernter Donner. Ann sah auf mr Handgelenk: etwas unter vier Minuten. Die Schallgeschwindigkeit betrug auf dem Mars 252 Meter in der Sekunde. Also war die Distanz von sechzig Kilometern bestätigt. Ann hatte fast den ersten Moment des Falls gesehen.
Tief in der Einbuchtung gab auch-ein kleineres Stück der Klippe nach, ohne Zweifel ausgelöst durch Stoßwellen. Aber im Vergleich mit dem zusammengebrochenen großen Eandstück, das Millionen Kubikmeter Gestein umfaßt hatte, sah es aus wie ein ganz gewöhnlicher Steinschlag. Es war phantastisch, wirklich einen dar ganz großen Erdrutsche zu sehen. Die meisten Areologen und Geologen hatten sich auf Explosionen oder Computersimulationen verlassen müssen. Einige in Volles Marineris verbrachte Wochen würden für sie das Problem lösen.
Und da kam es nun. Es rollte über den Boden wie die Front einer Staubwolke, wie ein Zeitlupenfilm eines sich nähernden Gewitters mit akustischen Effekten und allem. Es war wirklich eine recht weite Strecke vom Cape. Ann erkannte sofort, daß sie Zeugin eines weit ausgedehnten Erdrutsches war. Das war ein seltsames Phänomen, eines der ungelösten Rätsel der Geologie. Die große Mehrheit der Erdrutsche bewegt sich horizontal um weniger als die zweite Distanz ihres Falls. Aber einige wenige sehr große scheinen den Gesetzen der Reibung zu trotzen und laufen horizontal zehnmal so weit, wie sie vertikal abstürzen; und niemand weiß, warum das geschieht. Cape Solis war jetzt vier Kilometer gefallen und hätte also nicht mehr als acht laufen sollen. Aber hier war es, ganz über den Boden von Melas, und lief den Canyon hinab auf Ann zu. Wenn es nur vierzehnmal seine vertikale Fallstrecke zurücklegen würde, müßte es direkt über sie hinwegrollen und in die Geneva-Fortsetzung prallen.
Sie fokussierte ihren Feldstecher auf die Frontseite des Rutsches, die eben gerade als eine dunkle brodelnde Masse unter der wirbelnden Staubwolke zu erkennen war. Sie spürte, wie ihre Hand gegen den Helm zitterte, fühlte sonst aber nichts. Keine Furcht, kein Bedauern — wirklich nichts außer einer gewissen Erleichterung. Sie hatte immer gesagt, daß das Terraformen sie töten würde. Sie lachte kurz auf und kniff dann die Augen zu, um die Frontseite des Erdrutsches besser zu erkennen. Die älteste Standardhypothese zur Erklärung des weiten Laufens war, daß das Gestein über einer Luftschicht schwebte, die unter der Stelle des Falls zusammengepreßt gefangen war. Später hatten alte Fälle von weitem Laufen, die auf dem Mars und Erdmond entdeckt wurden, diese Idee in Zweifel gezogen, und Ann stimmte jenen zu, die argumentierten, daß jede unter dem Gestein eingefangene Luft rasch nach oben wegdiffundieren würde. Es mußte aber irgendein Schmiermittel geben. Unter anderem waren vorgeschlagen worden: eine Schicht aus infolge der Reibung geschmolzenem Gestein, akustische Wellen, die durch den Lärm des Falls verursacht wurden, oder auch nur das energetische Hüpfen der am Boden des Erdrutsches eingefangenen Partikel. Aber keine dieser Hypothesen war befriedigend; und niemand war sich sicher. Ann war mit einem geheimnisvollen Phänomen konfrontiert.
Nichts hinsichtlich der hier unter der Staubwolke auf sie zukommenden Masse wies auf die eine oder andere Theorie hin. Sicher glühte sie nicht wie geschmolzene Lava; und obwohl sie laut war, konnte man keinesfalls beurteilen, ob sie so laut war, daß sie auf ihrem sonischen Dröhnen reiten könnte. Auf jeden Fall kam sie näher, ganz gleich, durch welchen Mechanismus. Es sah ganz so aus, als ob, obwohl Ann eine Chance zu persönlicher Beobachtung hatte, ihr letzter Beitrag zur Geologie im Moment der Entdeckung verlorengehen würde.
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