Sie blickte auf ihre Uhr und war überrascht zu sehen, daß schon zwanzig Minuten vergangen waren. Man wußte, daß weite Eäufe schnell sein würden. Man schätzte, daß der Erdrutsch von Blackside in der Mojave-Wüste mit einhundertzwanzig Kilometern in der Stunde gelaufen war, wobei er eine Neigung von nur ein paar Grad nach unten glitt. Melas war im allgemeinen etwas steiler. Und tatsächlich kam die Front rasch näher. Der Lärm wurde stärker, wie direkt über einem grollender Donner. Die Staubwolke stieg höher und blockierte die nachmittägliche Sonne.
Ann wandte sich um und schaute auf den großen Marineris-Gletscher hinaus. Sie war von ihm einmalfast getötet worden, als der Ausbruch eines Wasserlagers die großen Canyons hinabströmte. Und Frank Chalmers war wirklich von ihm getötet und irgendwo weit stromabwärts im Eis begraben worden. Sein Tod war durch ihren Fehler verursacht worden, worüber die Gewissensbisse sie nie verlassen hatten. Es war nur ein Moment der Unaufmerksamkeit gewesen, aber eben doch ein Fehler. Und manche Fehler kann man nie wieder gutmachen.
Und dann war auch Simon gestorben, überwältigt von einem Schwall seiner weißen Blutzellen. Jetzt war sie an der Reihe. Die Erleichterung war so heftig, daß es geradezu schmerzte.
Sie hatte das Geschiebe vor sich. Der am Boden sichtbare Stein schien zu hüpfen, rollte aber nicht auf sie zu. Offenbar glitt er wirklich auf irgendeiner schmierenden Schicht. Geologen hatten fast intakte Wiesen im oberen Teil von Erdrutschen gefunden, die viele Kilometer zurückgelegt hatten. Also war das die Bestätigung von etwas Bekanntem. Es sah aber dennoch eigenartig aus, fast irreal. Ein niedriger Wall, der Über das Land vorrückte, ohne sich zu überschlagen — wie durch einen Zaubertrick. Der Boden unter den Füßen bebte; und Ann merkte, daß sie die Hände zu Fäusten geballt hatte. Sie dachte an Simon, der in seinen letzten Stunden mit dem Tode gekämpft hatte, undfauchte. Es erschien ihr nicht richtig, da zu stehen und das Ende so fröhlich zu begrüßen. Sie wußte, daß er es nicht billigen würde. Wie in einer seinem Geist geweihten Geste ging sie von dem niedrigen Lavadeich weg und ließ sich dahinter auf ein Knie nieder. Das grobe Korn des Basalts sah in dem braunen Licht stumpf aus. Sie fühlte die Vibrationen und sah zum Himmel auf. Sie hatte getan, was sie konnte; und niemand konnte ihr einen Vorwurf machen. Jedenfalls war es töricht, so zu denken. Niemand würde je erfahren, was sie hier machte, nicht einmal Simon. Und der Simon in ihrem Innern würde nie aufhören, sie zu plagen, ganz gleich, was sie täte. Also war es Zeit auszuruhen und dankbar zu sein. Die Staubwolke rollte über den niedrigen Deich, es erhob sich ein Wind…
Bum! Sie wurde durch den Anprall des Lärms flach hingestreckt. Dann rappelte sie sich auf und schleppte sich über den Boden des Canyons, von Steinen überschüttet. Sie steckte in einer dunklen Wolke und kroch auf Händen und Knien. Überall um sie herum war Staub, das Gebrüll knirschender Felsen erfüllte alles, und der Boden unter ihr schüttelte sich wie ein wildes Tier …
Das Kumpeln ließ nach. Ann war immer noch auf allen vieren und fühlte den kalten Stein durch ihre Handschuhe und Knieschützer. Windstöße reinigten die Luft. Sie war von Staub und Gesteinssplittern bedeckt.
Wackelig stand sie auf. Ihre Hände und Knie schmerzten, und eine Kniescheibe war vor Kälte taub. Ihr linkes Handgelenk war verstaucht. Sie ging zu dem niedrigen Deich und schaute hinüber. Der Erdrutsch war ungefähr dreißig Meter davor zum Halten gekommen. Der Boden davor war mit Geröll bedeckt, aber der Rand des eigentlichen Geschiebes war eine schwarze Wand aus pulverisiertem Basalt mit einem Neigungswinkel von etwa fünfundvierzig Grad und zwanzig oder fünfundzwanzig Meter hoch. Wenn sie auf dem Deich stehengeblieben wäre, hätte der Anprall der Luft sie umgeworfen und getötet. »Verdammt!« sagte sie zu Simon.
Die nördliche Grenze des Erdrutsches war bis zum MelasGletscher vorgedrungen, hatte das Eis geschmolzen und sich mit ihm zu einem dampfenden Trog von Felsblöcken und Schlamm vermischt. Die Staubwolke machte es schwer, viel davon zu sehen. Ann überquerte den Deich und ging zum Fuß des Geschiebes. Die Steine auf dem Boden waren noch heiß. Sie schienen stärker zertrümmert zu sein als die weiter oben. Ann starrte die neue schwarze Wand an. Ihr klangen die Ohren. Nicht fair, dachte sie. Nicht fair.
Sie ging zum Geneva-Vorsprung zurück. Sie fühlte sich unwohl und benommen. Der Felsenwagen stand noch auf der Sackgasse, staubig, aber offenbar unbeschädigt. Lange Zeit brachte sie es nicht über sich, ihn zu berühren. Sie blickte zurück über die lange, rauchende Masse des Geschiebes — ein schwarzer Gletscher, dicht bei einem weißen. Endlich öffnete sie die Schleuse und bückte sich hinein. Es gab keine andere Wahl.
Ann fuhr jeden Tag ein kleines Stück. Dann stieg sie aus und ging über den Planeten. Sie verrichtete ihre Arbeit verbissen wie ein Automat.
Zu beiden Seiten der Tharsishöhe gab es eine Depression. Auf der Westseite war Amazonis Planitia, eine tiefliegende Ebene, die weit in die Gebirge des Südens reichte. Im Osten lag der Chryse-Trog, eine Senke, die vom Argyrebecken durch den Margaritifer Sinus und Chryse Planitia verlief, den tiefsten Punkt der Senke. Der Trog lag durchschnittlich zwei Kilometer tiefer als seine Umgebung; und alles chaotische Gelände auf dem Mars sowie die alten Ausbruchkanäle befanden sich darin.
Ann fuhr nach Osten längs des Südrandes von Marineris, bis sie sich zwischen Nirgal und Aureum Chaos befand. Sie hielt an, um sich bei dem Refugium namens Dolmenhügel wieder zu versorgen, wo Michel und Kasei sie am Ende ihres Rückzugs aus Marineris 2061 aufgenommen hatten. Es machte ihr nichts aus, das kleine Refugium wiederzusehen. Sie erinnerte sich kaum daran. Alle ihre Erinnerungen waren dahin, was sie als tröstlich empfand. Sie arbeitete tatsächlich daran und konzentrierte sich mit solcher Intensität auf den Moment, daß selbst dieser entschwand. Jeder Augenblick war ein Lichtblitz in einem Nebel, als ob in ihrem Kopf etwas zerbräche.
Gewiß datierte der Trog aus der Zeit vor dem Chaos und den Ausbruchskanälen, die ohne Zweifel wegen des Trogs dort lagen. Der Tharsis-Buckel war eine mächtige Quelle von Ausgasung aus dem heißen Zentrum des Planeten gewesen, alle die radialen und konzentrischen Frakturen darum entließen flüchtige Substanzen aus dem tiefen Innern des Mars. Im Regolith war Wasser nach unten geflossen in die Depressionen zu beiden Seiten des Buckels. Es könnte sein, daß die Senken das direkte Resultat des Buckels wären, einfach indem die Lithosphäre auf den Außengebieten, von wo sie hochgedrückt worden war, nach unten gebogen wurde. Es könnte aber auch sein, daß der Mantel sich unter den Depressionen gesenkt hätte, so wie er unter dem Buckel aufgestiegen war. Standardmodelle der Konvektion würden einen solchen Gedanken unterstützen — das Emporquellen mußte schließlich irgendwo wieder nach unten führen, durch Hinabrollen an den Seiten und dem Hinterherziehen der Lithosphäre in der Umgebung.
Und dann war oben im Regolith Wasser wie gewöhnlich nach unten gelaufen und hatte sich in den Trögen gesammelt, bis die Reservoire aufbrachen und die Oberfläche darüber zusammenbrach. Daher die Ausbruchkanäle und das Chaos. Das war ein gutes Arbeitsmodell, plausibel und stark, welches eine Menge von Merkmalen erklärte.
Also fuhr Ann jeden Tag und ging umher auf der Suche nach Bestätigung der Erklärung des Chrysetrogs durch Konvektion im Mantel. Sie wanderte über die Oberfläche des Planeten, kontrollierte alte Seismographen und schlug Gesteinsproben ab. Es war jetzt schwierig, im Trog nach Norden vorzustoßen. Die Ausbrüche der Wasserlager von 2061 hatten den Weg fast blockiert und nur einen schmalen Spalt zwischen dem Ostende des großen Marineris-Gletschers und der Westseite eines kleineren Gletschers gelassen, der die ganze Länge von Ares Vallis ausfüllte. Dieser Spalt war östlich von Noctis Labyrinthus die erste Gelegenheit, den Äquator zu überschreiten, ohne über Eis zu geraten; und Noctis war sechstausend Kilometer entfernt. Darum hatte man in dem Spalt eine Piste und eine Straße gebaut und eine recht große Kuppelstadt auf dem Rand des Galileikraters errichtet. Südlich von Galilei war der engste Teil des Spaltes nur vierzig Kilometer breit, eine befahrbare ebene Zone zwischen dem östlichen Arm des Hydaspis Chaos und des westlichen Teils von Aram Chaos. Es war schwer, durch diese Zone zu fahren und sich dabei unter dem Horizont zu halten; und Ann fuhr hart am Rande von Aram Chaos mit Blick auf das zertrümmerte Gelände.
Читать дальше