Nördlich von Galilei war es leichter. Und dann war sie aus dem Spalt heraus und auf Chryse Planitia. Dies war das Herzsstück des Trogs mit einem Gravitationspotential von -0,65; der leichteste Fleck auf dem Planeten, sogar noch leichter als Hellas und Isidis.
Aber eines Tages fuhr sie auf den Gipfel eines einsamen Berges und sah, daß sich mitten in Chryse ein EisSee befand. Ein langer Gletscher war von Simud Vallis heruntergeflossen und hatte in dem tiefen Punkt von Chryse einen Teich gebildet, der sich ausgedehnt hatte, bis er zu einem See aus Eis wurde, der das Land bis über den Horizont im Norden, Nordosten und Nordwesten bedeckte. Ann fuhr langsam um sein westliches und dann sein nördliches Ufer herum. Der See hatte einen Durchmesser von zweihundert Kilometern.
Nahe dem Ende eines Tages hielt sie ihren Wagen auf dem Rand eines Geisterkraters an und schaute über die weite Fläche von zerbrochenem Eis. Es hatte ’61 so viele Ausbrüche gegeben. Es war klar, daß einige gute Areologen in jenen Tagen für die Rebellen gearbeitet hatten. Sie hatten Wasserreservoire gefunden und Explosionen von Reaktorschmelzen ausgelöst genau dort, wo die hydrostatischen Drücke am höchsten waren. Ann hatte den Eindruck, daß sie viele ihrer Entdeckungen benutzt hatten.
Aber das war Vergangenheit und jetzt abgetan. All das war dahin. Hier und jetzt gab es nur diesen Eissee. Die alten Seismographen, die sie aufgefunden hatte, wiesen Aufzeichnungen auf, die Störungen durch neuere Beben aus dem Norden vermeldeten, wo es nur geringe Aktivität hätte geben sollen. Vielleicht bewirkte das Abschmelzen der nördlichen Polkappe, daß die Lithosphäre dort wieder nach oben drängte und viele kleine Marsbeben auslöste. Aber die von den Seismographen aufgezeichneten Erschütterungen waren einzelne kurzperiodische Stöße, eher wie Explosionen als wie Marsbeben. Ann hatte ihr Computerarchiv viele lange Abende hindurch studiert und war verwirrt.
Jeden Tag fuhr sie und ging dann zu Fuß. Sie verließ den Eissee und wandte sich weiter nach Norden auf Acidalia zu.
Die großen Ebenen der Nordhemisphäre galten im allgemeinen als flach; und das waren sie gewiß im Vergleich mit der Chaosregion oder den Gebirgen des Südens. Aber immerhin waren sie nicht so eben wie ein Spielplatz oder eine Tischfläche, nicht einmal annähernd. Überall gab es Wellen, ein ständiges Auf und Ab von Buckeln und Löchern, Grate brechenden Urgesteins, Senken voll feiner Flugstoffe, große zerklüftete Felder mit Felsblöcken, isolierte Hügel und kleine Sinklöcher… Es war anders als auf der Erde. Auf der Erde hätte Boden die Höhlungen gefüllt, und Wind und Wasser und pflanzliches Leben hätten die Berggipfel zernagt und abgetragen, und dann wäre das Ganze überflutet worden oder fortgeschafft oder von Eisplatten flachgedrückt oder durch tektonische Einwirkung angehoben. Alles wurde weggerissen und Dutzende Male im Verlauf der Äonen wieder aufgebaut und immer wieder durch Wetter, Fauna und Flora abgeflacht. Aber diese gewellten Ebenen, deren Löcher durch Metoritenaufprall geschlagen worden waren, hatten sich seit Milliarden von Jahren nicht verändert. Und dabei gehörten sie zu den jüngsten Oberflächen auf dem Mars.
Es war mühsam, durch solch klumpiges Gelände zu fahren, und man konnte sich sehr leicht verirren beim Gehen, besonders dann, wenn der Wagen genau so wie alle anderen Felsblöcke aussah, die da verstreut lagen. Das galt vor allem, wenn man abgelenkt wurde. Mehr als einmal mußte Ann ihr Fahrzeug durch Funksignal finden anstatt nach Sicht. Manchmal kam sie dicht heran, ohne es zu erkennen. Und dann wachte sie auf oder kam zu sich mit zitternden Händen im nachträglichen Schock einer selbstvergessenen Träumerei.
Die besten Fahrrouten liefen entlang der niedrigen Grate und Deiche aus freiliegendem Urgestein. Wenn diese hohen Basaltwege miteinander in Verbindung gestanden hätten, wäre es leicht gewesen. Aber meistens waren sie durch Querfalten unterbrochen, die zunächst nur leichte Rillen waren, aber dann immer tiefer und breiter wurden, wenn man vorrückte — in Folgen wie auseinanderkippende Brotscheiben, bis die Spalten aufrissen und mit Geröll und Grus gefüllt wurden und der Deich nur wieder Teil eines Felsblocks wurde.
Sie fuhr weiter nach Norden auf Vastitas Borealis zu. Acidalia, Borealis — die alten Namen waren so eigenartig. Ann tat ihr Bestes, nicht mehr nachzudenken, aber während der langen Stunden im Wagen war es weniger gefährlich zu lesen, als zu versuchen, achtsam zu bleiben. Also las sie aufs Geratewohl in der Bibliothek ihres Computers. Oft landete sie da beim Anstarren areologischer Karten; und eines Abends bei Sonnenuntergang las sie nach einer solchen Sitzung etwas über Marsnamen nach.
Es zeigte sich, daß die meisten von Giovanni Schiaparelli stammten. Er hatte auf seinen teleskopischen Karten mehr als hundert Albedoobjekte benannt, deren meiste ebenso illusorisch waren wie die canali. Aber als die Astronomen der 1950er Jahre eine revidierte Karte von Albedoobjekten angefertigt hatten, die fotografiert werden konnten und die allgemeine Zustimmung fanden, wurden viele Namen Schiaparellis beibehalten.
Das war ein Tribut an seine besondere Stärke der Namengebung, die er besessen hatte. Er war ein angesehener klassischer Philologe und ein Erforscher biblischer Astronomie; und unter seinem Namen gab es lateinische, griechische, biblische und homerische Bezüge in bunter Mischung. Er hatte aber auch wohl ein gutes Auge. Ein Beweis seines Talents war der Kontrast zwischen seinen Karten und den konkurrierenden Karten des neunzehnten Jahrhunderts. Zum Beispiel beruhte die Karte eines Engländers namens Proctor auf den Zeichnungen eines Reverend William Dawes. Darum gab es auf Proctors Karten, die nicht einmal zu den anerkannten Albedomerkmalen erkennbare Beziehungen hatten, einen Dawes-Kontinent, einen Dawes-Ozean, eine Dawes-Meerenge, ein Dawes-Meer und eine gegabelte Dawes-Bucht. Ebenso ein Airy-Meer, einen de la Rue-Ozean und ein Beer-Meer. Allerdings war das letztere ein Tribut für einen Deutschen namens Beer, der eine Marskarte gezeichnet hatte, die noch schlechter war als die von Proctor. Aber im Vergleich mit diesen war Schiaparelli ein Genie gewesen.
Aber nicht folgerichtig. Die Objekte auf dem Merkur wurden alle nach großen Künstlern benannt und die auf der Venus nach berühmten Frauen. Wenn man eines Tages über deren Landschaften fahren oder fliegen würde, könnte man das Gefühl haben, in kohärenten Welten zu leben. Nur auf dem Mars bewegte man sich in einem schrecklichen Mischmasch aus Träumen der Vergangenheit, die dem Kenner sagten, welch katastrophale Mißverständnisse des wahren Geländes sie verrieten: der See der Sonne, die Goldebene, das Rote Meer, Pfauenberg, Phönix-See, Kimmerien, Arkadien, der Golf der Perlen, der Gordische Knoten, Styx, Hades, Utopia …
Auf den dunklen Dünen von Vastitas Borealis wurden Ann allmählich die Vorräte knapp. Ihre Seismographen zeigten im Osten tägliche Beben an, und sie fuhr dorthin. Bei ihren Spaziergängen im Freien studierte sie die granatroten Sanddünen und deren Schichten, welche das frühere Klima wie Jahresringe im Holz anzeigten. Aber Schnee und starke Winde rissen die Kämme der Dünen fort. Die Westwinde konnten äußerst heftig sein, genug, um Schichten grobkörnigen Sandes zu packen und gegen ihren Wagen zu schleudern. Der Sand lagerte sich immer in Form von Dünen ab. Das war eine einfache Sache der Physik; aber die Dünen würden ihren langsamen Marsch um die Welt aufnehmen, und ihr in früheren Zeiten aufgestellter Rekord würde hinfällig sein.
Ann verdrängte diesen Gedanken und studierte das Phänomen, als ob es nicht durch neue künstliche Kräfte gestört würde. Sie konzentrierte sich auf ihre Arbeit, packte ihren Geologenhammer und schlug damit Steinproben ab. Die Vergangenheit war Stück für Stück zerbröckelt. Zurückgelassen. Sie weigerte sich, daran zu denken. Aber immer wieder fuhr sie aus dem Schlaf hoch mit der Vorstellung, daß das schnell laufende Geschiebe auf sie zukäme. Und wenn sie endgültig wach war, schwitzte und zitterte sie vor der hellen Morgendämmerung und der wie brennender Schwefel flammenden Sonne.
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