Das Ouroboros-Team in Sheffield nahm ein Stockwerk im Wolkenkratzer von Praxis in der Innenstadt ein. Die Gesellschaft hatte zunächst damit angefangen, die alte Stadt auszugraben, ehe die Ruinen so formlos über die Kante geschoben wurden. Ein Mann namens Zafir leitete das Projekt zur Bergung des heruntergefallenen Kabels; und er und Adrienne begleiteten Art zum Bahnhof, wo sie einen Lokalzug bestiegen und eine kurze Fahrt zum Ostrand unternahmen zu einer Reihe von Vorstadtzelten. Eines davon war das Vorratslager von Ouroboros, und gleich daneben befand sich neben vielen anderen Fahrzeugen eine wahrhaft gigantische mobile Verarbeitungsanlage, genannt ›Das Biest‹. Es sah aus wie ein überdimensionales Kompaktauto und war fast völlig robotisch. Ein anderes Biest war gerade auswärts, um das Kabel in West-Tharsis zu verarbeiten; und für Art war geplant, daß er eine Besichtigung vor Ort durchführen sollte. Also führten Zafir und eine Schar Techniker Art herum in dem Trainingsvehikel, das in einem geräumigen Gelaß auf der höchsten Etage endete, wo es Wohnmöglichkeiten gab für alle etwaigen Besucher.
Zafir war darüber begeistert, was Das Biest draußen in West-Tharsis gefunden hatte. Er sagte: »Natürlich gibt uns schon die Bergung des Karbonfilamentes und der Schraubenwindungen aus Diamant-Gel einen grundlegenden Zustrom an Einkommen. Und wir haben Erfolg mit einigen exotischen Stoffen, die in Brekzien in der letzten Hemisphäre des Falls umgewandelt wurden. Was Sie aber interessieren wird, sind die Buckiekugeln.« Zafir war ein Experte für diese kleinen geodätischen Kugeln namens Buckminsterfullerene und wurde enthusiastisch: »Temperaturen und Drücke in der West-Tharsis-Zone des Falls erwiesen sich als ähnlich denen, die bei dem Bogenreaktorverfahren zur Herstellung von Fullerenen angewandt wurden; und da gibt es einen hundert Kilometer langen Streifen, wo der Kohlenstoff auf der Bodenseite des Kabels fast völlig aus Buckiekugeln besteht.« Und einige Superbuckies hatten bei ihrer Bildung Atome anderer Elemente in ihren Karbonkäfigen eingefangen. Diese ›vollen Fullerene‹ waren nützlich bei der Herstellung von Verbindungen, aber im Labor sehr kostspielig herzustellen wegen der enormen benötigten Energiemengen. Darum war dies ein hübscher Fund. »Das Biest sortiert die verschiedenen Superbuckies aus, wo Ihre Ionenchromatographie ins Spiel kommt.«
»Ich verstehe«, sagte Art. Er hatte bei Analysen in Georgien mit Ionenchromatographie gearbeitet; und dies war der offensichtliche Grund dafür, daß er ins Hinterland geschickt wurde. Also trainierten in den nächsten Tagen Zafir und einige darin bewanderte Techniker Art in der Bedienung des Biestes. Danach hatten sie ein gemeinsames Dinner in einem kleinen Restaurant in dem Vorortzelt auf dem Ostrand. Nach Sonnenuntergang hatten sie einen großartigen Blick auf Sheffield, das etwa dreißig Kilometer um die Krümmung des Randes in der Dämmerung leuchtete wie eine Lampe auf dem schwarzen Abgrund.
Während sie so aßen und tranken, wandte sich die Konversation selten dem Thema von Arts Projekt zu. Art dachte darüber nach und kam zu dem Schluß, daß das wahrscheinlich eine absichtliche Höflichkeit der Kollegen ihm gegenüber war. Das Biest arbeitete vollkommen selbständig; und obwohl es einige Probleme bei der Aussortierung der kürzlich entdeckten vollen Fullerene gab, müßte es vor Ort Ionenchromatographen geben, die die Arbeit hätten tun können. Es gab also keinen offensichtlichen Grund, weshalb Praxis Art von der Erde dafür hätte heraufschicken sollen. Es mußte also mehr an seiner Geschichte dran sein. Und so vermied die Gruppe dies Thema und ersparte Art die Peinlichkeit zu lügen oder verlegenen Achselzuckens oder einer ausführlichen Aufforderung zur Vertraulichkeit.
Art wären alle diese Tricks unangenehm gewesen, darum schätzte er ihr Taktgefühl. Aber es brachte eine gewisse Distanz in ihre Gespräche. Und er sah die anderen Neulinge von Praxis nur selten außer bei Einführungstreffen; und er kannte niemanden sonst in der Stadt oder anderswo auf dem Planeten. Darum war er etwas einsam, und die Tage vergingen mit einem zunehmenden Gefühl des Unbehagens und sogar von Niedergeschlagenheit. Er hielt die Vorhänge vor der Aussicht von seinem Fenster aus geschlossen und speiste in Restaurants, die entfernt vom Rand lagen. Es kam ihm fast zu sehr so vor wie in den Wochen auf der Ganesh, die für ihn jetzt eine miserable Erinnerung bildeten. Manchmal mußte er sich des Gefühls erwehren, daß es ein Fehler gewesen war zu kommen.
Und so trank er nach ihrer letzten Orientierungslektion bei einem Empfangsessen im Praxisgebäude mehr als gewohnt und tat einige Atemzüge aus einem großen Kanister mit Lachgas. Das Inhalieren von Erholungsdrogen war ortsüblich und bei Bauarbeitern auf dem Mars recht verbreitet, wie man ihm gesagt hatte. Und es gab sogar kleine Kanister mit verschiedenen Gasen in Automaten mancher öffentlicher Herrentoiletten. Sicher verlieh die Salpetersäure dem Champagner eine besondere Spritzigkeit. Das war eine hübsche Kombination wie Erdnüsse und Bier oder Eiskrem und Apfeltorte.
Danach ging Art mit wirren Sprüngen durch die Straßen von Sheffield. Er empfand die Salpetersäure als eine Art von Antischwerkraftwirkung, die zusammen mit dem Grundeffekt auf dem Mars ihm ein fast allzu großes Gefühl von Leichtigkeit vermittelte. Technisch wog er etwa vierzig Kilo; aber beim Gehen fühlte er sie mehr wie fünf. Sehr seltsam, sogar unangenehm. Als ob man auf mit Butter beschmiertem Glas gehen würde.
Er stieß fast mit einem jungen Mann zusammen, der sichtlich größer war als er, so schlank wie ein Vogel und ebenso graziös, der schnell vor ihm abbog und ihn dann mit einer Hand auf der Schulter beruhigte, alles in einer glatten, fließenden Bewegung.
Der junge Mann sah ihm ins Gesicht. »Sind Sie Arthur Randolph?«
»Ja«, sagte Art überrascht, »der bin ich. Und wer sind Sie?«
»Ich bin derjenige, der sich mit William Fort in Verbindung gesetzt hat.«
Art blieb abrupt stehen und schwankte, um wieder auf die Füße zu kommen. Der junge Mann hielt ihn mit leichtem Druck senkrecht. Seine Hand lag fest auf Arts Oberarm. Er sah Art direkt an mit freundlichem Lächeln. Vielleicht zwanzig Jahre alt, schätzte Art, vielleicht jünger — ein hübscher Bursche mit brauner Haut und dichten schwarzen Augenbrauen und Augen, die leicht asiatisch waren und über vorstehenden Backenknochen saßen. Ein intelligenter Blick, voller Wißbegier und einer Art magnetischen Qualität, die schwer festzulegen war.
Art war er sofort sympathisch, ohne einen Grund, den er hätte angeben können. Es war bloß ein Gefühl. »Nennen Sie mich Art!« sagte er.
»Ich bin Nirgal«, sagte der Jüngling. »Lassen Sie uns zum Overlook Park hinuntergehen.«
Also ging Art mit ihm über den mit Gras bewachsenen Boulevard zu dem Park am Rand. Dort schlenderten sie über den Weg neben der Mauerkrone. Nirgal half Art bei seinen betrunkenen Wendungen, indem er freimütig seinen Oberarm packte und ihn steuerte. Sein Griff hatte eine durchdringende elektrische Eigenschaft und war sehr warm, als ob der Junge Fieber hätte. Aber in seinen dunklen Augen war kein Anzeichen davon.
»Warum sind Sie hier?« fragte Nirgal. Und seine Stimme und der Blick in seinen Augen machten die Frage zu etwas anderem als einer oberflächlichen Erkundigung. Art dachte über seine Antwort nach.
»Um zu helfen«, sagte er.
»Also wirst du zu uns stoßen?«
Wieder machte der junge Mann irgendwie klar, daß er etwas anderes, Fundamentales meinte.
»Ja, zu jeder Zeit, die ihr wollt«, versicherte Art.
Nirgal zeigte ein rasches, entzücktes Lächeln, das er nur zum Teil überwand, ehe er sagte: »Gut. Sehr gut. Aber schau, ich tue dies aus eigener Initiative. Verstehst du? Es gibt Leute, die es nicht billigen würden. Darum muß ich dich bei uns einschmuggeln, als ob es ein Unfall wäre. Ist das deinerseits okay?«
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