Die Fahrt von der Steckdose nach Sheffield selbst erfolgte mit der U-Bahn, aber Art hatte sich zu elend gefühlt, als daß er hinausgeschaut hätte, selbst wo das möglich gewesen wäre. Erschöpft und unsicher wackelte er auf Zehenspitzen durch eine hohe Halle hinter jemandem von Praxis hinterher und sank dankbar in einem kleinen Zimmer auf ein Bett. Die Marsschwere fühlte sich angenehm solide an, als er dalag. Nach einer Weile schlief er ein.
Als er aufwachte, konnte er sich nicht erinnern, wo er war. Er schaute sich in dem kleinen Raum um und fragte sich, ob Sharon weggegangen sei und warum ihr Schlafzimmer so klein geworden war. Dann fiel es ihm wieder ein. Er war auf dem Mars.
Er stöhnte und setzte sich auf. Er fühlte sich heiß und dennoch von seinem Körper getrennt. Alles pulsierte leicht, obwohl das Licht im Raum normal zu funktionieren schien. An der Wand gegenüber der Tür waren Vorhänge. Er stand auf, ging hinüber und öffnete sie mit einem einzigen Zug.
»He!« rief er und sprang zurück. Er hatte das Gefühl, ein zweites Mal zu erwachen.
Es war wie der Blick aus dem Fenster eines Flugzeugs. Endloser freier Raum, ein fahl gefleckter Himmel, die Sonne wie ein Klumpen Lava. Und da weit unten zog sich eine steinige Ebene hin, flach und rund, als läge sie am Boden einer riesigen kreisförmigen Klippe — für ein natürliches Gebilde wirklich extrem rund. Es war schwer zu schätzen, wie weit die gegenüberliegende Seite der Klippe entfernt war. Einzelheiten der Klippe waren vollkommen deutlich, aber Strukturen auf dem entgegengesetzten Rand waren sehr klein. Was wie ein Observatorium aussah, hätte auf eine Nadelspitze gepaßt.
Dies, so folgerte er, war die Caldera von Pavonis Mons. Sie waren bei Sheffield gelandet, also konnte es da keinen Zweifel geben. Darum waren es etwa sechzig Kilometer quer durch den Kreis zu jenem Observatorium, wie sich Art nach den Dokumentarvideos erinnerte, und fünf Kilometer bis zum Boden. Und all das völlig leer, steinig, unberührt, urtümlich. Der vulkanische Fels sah so kahl aus, als ob er erst vor einer Woche abgekühlt wäre. Keine Spur von Menschen darin. Keine Anzeichen von Terraformung. Das mußte vor einem halben Jahrhundert für John Boone genau so ausgesehen haben. Und so … fremdartig. Und groß. Art hatte in die Calderas von Ätna und Vesuv geblickt, als er von Teheran aus Urlaub gemacht hatte; und das waren für irdische Begriffe große Krater gewesen. Aber man hätte tausend von ihnen in diesem… diesem Ding… diesem Loch unterbringen können …
Er schloß die Vorhänge und zog sich langsam an. Sein Mund ahmte die Form der unirdischen Caldera nach.
Eine freundliche Führerin von Praxis namens Adrienne, groß genug, um auf dem Mars geboren zu sein, aber mit starkem australischem Akzent, holte ihn ab und unternahm mit ihm und einem halben Dutzend anderer Neuankömmlinge eine Tour durch die Stadt. Es stellte sich heraus, daß ihre Zimmer auf dem tiefsten Niveau der Stadt lagen, obwohl es nicht lange das tiefste bleiben würde. Sheffield war in diesen Tagen dabei, sich nach unten zu bohren, um möglichst vielen Räumen den Blick auf die Caldera zu bescheren, der Art so außer Fassung gebracht hatte.
Ein Lift brachte sie fast fünfzig Stockwerke höher und entließ sie in die Lobby eines funkelnagelneuen Geschäftsgebäudes. Sie traten durch die großen Drehtüren und kamen heraus auf einem breiten begrünten Boulevard. Den gingen sie hinunter an flachen Gebäuden mit Fronten aus polierten Steinen und großen Fenstern vorbei, die von mit Gras bewachsenen Nebenstraßen getrennt waren und einer großen Anzahl von Bauplätzen, da viele Gebäude noch in verschiedenen Stadien der Fertigstellung waren. Es würde eine hübsche Stadt werden, die Häuser meist drei und vier Stockwerke hoch. Sie wurden höher, als sie nach Süden kamen, weg vom Rand der Caldera. Die grünen Straßen waren voller Menschen wie auch die gelegentlich auf schmalen, ins Gras eingelassenen Schienen fahrende Straßenbahn. Es herrschte eine allgemeine Atmosphäre von Geschäftigkeit und Aufregung, ohne Zweifel verursacht durch den neuen Aufzug. Eine aufstrebende Stadt.
Der erste Ort, zu dem Adrienne sie brachte, lag gegenüber einem Boulevard zum Rande der Caldera. Sie führte die sieben Neuangekommenen hinaus in einen schmalen, sich windenden Park zu dem fast unsichtbaren Zeltdach, das die Stadt umschloß. Die transparenten Stoffe wurden von gleichfalls durchsichtigen geodätischen Stützen gehalten, die in einer brusthohen Umfassungsmauer verankert waren. Adrienne erklärte ihnen: »Das Zeltdach muß hier stärker sein als sonst auf Pavonis üblich, weil die Atmosphäre draußen äußerst dünn ist. Sie wird immer dünner sein als im Tiefland — um einen Faktor zehn.«
Sie führte sie hinaus in eine Ausguckblase in der Zeltwand; und wenn sie zwischen ihren Füßen nach unten schauten, konnten sie durch den transparenten Boden der Blase direkt auf den Boden der Caldera mehr als fünftausend Meter unter ihnen blicken. Die Leute schrien angstvoll entzückt auf, und Art stampfte unbehaglich auf den klaren Fußboden. Für ihn gewann die Weite der Caldera jetzt Perspektive. Der Nordrand war ungefähr so weit entfernt wie Mount Tamalpais und die Napa-Berge, wenn man zum Flughafen von San Jose hinabstieg. Das war keine außergewöhnliche Distanz. Aber die Tiefe da unten, die Tiefe! Über fünf Kilometer oder etwa zwanzigtausend Fuß. »Ein ganz beachtliches Loch«, sagte Adrienne.
Fernrohre auf Stativen und Schautafeln mit Karten ermöglichten ihnen, die frühe Version von Sheffield zu betrachten, die sich jetzt auf dem Boden der Caldera befand. Art hatte unrecht gehabt hinsichtlich der urtümlichen Natur der Caldera. Ein unauffälliger Haufen aus Geröll am Boden der Klippe mit einigen hellen Punkten darin waren tatsächlich die Ruinen der ursprünglichen Stadt.
Adrienne schilderte mit großem Genuß die Zerstörung der Stadt im Jahre 2061. Das herunterfallende Aufzugskabel hatte natürlich in den ersten Momenten des Falls die Vororte östlich seiner Steckdose zermalmt. Aber danach hatte sich das Kabel rund um den ganzen Planeten gewickelt und der Südseite der Stadt einen massiven zweiten Schlag versetzt, der eine unentdeckte Störstelle in dem Basaltrand losgerissen hatte. Etwa ein Drittel der Stadt hatte auf der falschen Seite dieses Bruchs gelegen und war fünf Kilometer hinab auf den Boden der Caldera gestürzt. Die restlichen zwei Drittel der Stadt waren flachgedrückt worden. Glücklicherweise waren die Bewohner größtenteils in den vier Stunden zwischen der Loslösung von Clarke und dem zweiten Ankommen des Kabels evakuiert worden, so daß Verluste an Menschenleben minimal waren. Aber Sheffield war völlig zerstört worden.
Während langer Jahre danach, erzählte ihnen Adrienne, hatte die Stätte verlassen dagelegen, ein Wrack wie so viele andere Städte nach dem Aufruhr von ’61. Die meisten dieser anderen Städte hatte man als Ruinen belassen; aber die Lage Sheffields blieb der ideale Platz zur Befestigung eines Weltraumaufzugs. Und als Subarashii in den späten 2080ern anfing, den Bau eines neuen im Raum zu organisieren, folgten die Bauarbeiten am Boden rasch nach. Eine genaue areologische Untersuchung hatte keine anderen Fehlstellen im Südrand ergeben, so daß man zuversichtlich direkt auf der Kante an der gleichen Stelle wie zuvor wieder bauen konnte. Räumfahrzeuge hatten die Trümmer der alten Stadt beseitigt, das meiste davon einfach über den Rand geschoben und nur den östlichsten Teil der Stadt um die alte Steckdose herum übrig gelassen als eine Art Denkmal der Katastrophe — und auch als Zentrum einer kleinen Touristenindustrie, die durchaus einen bedeutenden Anteil des Einkommens der Stadt in den mageren Jahren erbracht hatte, ehe wieder ein Aufzug installiert worden war.
Adriennes nächster Punkt bei der Tour führte sie hinaus, um dieses erhaltene Stück Geschichte zu besichtigen. Sie nahmen eine Straßenbahn zu einem Tor in der Ostwand des Zeltes und gingen durch eine klare Röhre in ein kleineres Zelt, das die Ruinen bedeckte sowie die Betonmasse der alten Kabelanlage und das untere Ende des herabgestürzten Kabels. Sie gingen auf einem eingezäunten Weg, der von Trümmern freigemacht war, und starrten neugierig auf die Fundamente und verdrehten Rohre.-Es sah aus wie das Ergebnis einer totalen Bombardierung.
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