Nach einer Weile schnallte sich der Pilot los. Die Passagiere taten das auch und gingen zu den zwei kleinen Fenstern, um hinauszuschauen. Schwarzer Weltraum, blauer Planet — genau wie die Bilder, aber mit der erregenden Schärfe der Realität. Art blickte hinab auf Westafrika, und eine große Welle von Übelkeit überkam ihn.
Er bekam gerade den leichtesten Anflug von Appetit wieder nach einem zeitlosen Intervall von Raumkrankheit, der in der realen Welt fünf Tage hätte dauern können, als sich eines der ständig verkehrenden Shuttles näherte, nachdem es um die Venus herumgekurvt war und in einer Bahn an der Erde vorbei zum Mond gerade so weit aerodynamisch abgebremst hatte, daß die kleinen Fähren es einholen konnten. Irgendwann während seiner Raumkrankheit waren Art und die anderen Passagiere in eine dieser Fähren überführt worden, die dann zum rechten Zeitpunkt hinter einem der Linienshuttles herzischte. Die Beschleunigung war noch härter als beim Start von Canaveral; und danach war Art wieder schwindlig und unwohl. Noch mehr Schwerelosigkeit hätte ihn getötet. Er stöhnte schon bei dem bloßen Gedanken. Aber zum Glück gab es in dem Linienshuttle einen Ring, der mit einem Tempo rotierte, das einigen Räumen eine sogenannte Marsschwere verlieh. Art bekam ein Bett im Revier, das einen davon einnahm, und blieb dort. Er konnte in dem besonders geringen Ge des Mars nicht richtig gehen. Er hopste und stolperte herum, fühlte sich immer noch im Innern angeschlagen und schwindlig. Aber er blieb noch auf der rechten Seite der Übelkeit, wofür er dankbar war, obwohl das an sich kein besonders angenehmer Zustand war.
Das Shuttle für den interplanetaren Verkehr hatte eine merkwürdige Gestalt. Wegen des häufigen aerodynamischen Bremsens in den Atmosphären von Erde, Venus und Mars hatte es ungefähr die Figur eines Hammerhais. Der Ring rotierender Räume befand sich nahe dem Heck, direkt vor dem Antriebszentrum und den Schleusen für die Zulieferfähren. Der Ring drehte sich, und man ging mit dem Kopf zur Mittellinie des Schiffs. Die Füße zeigten nach unten auf die Sterne unter dem Fußboden.
Nach etwa einer Woche unterwegs beschloß Art, es noch einmal mit Schwerelosigkeit zu versuchen, da der rotierende Ring keine Fenster hatte. Er ging zu einer Übergangskammer, um in den sich nicht drehenden Teil des Schiffs zu gelangen. Die Kabinen befanden sich auf einem schmalen Ring, der sich mit dem GeRing bewegte, konnten aber verlangsamt werden, um sich dem Rest des Schiffs anzugleichen. Sie sahen aus wie Lastenfahrstühle mit Türen auf beiden Seiten. Wenn man in eine einstieg und den richtigen Knopf drückte, bremste er während einiger Umdrehungen zum Halt; und die gegenüberliegende Tür öffnete sich auf den Rest des Schiffs.
Also versuchte Art das. Als die Kabine langsamer wurde, begann er, Gewicht zu verlieren, und sein Schlund hob sich dementsprechend an. Als sich dann die andere Tür öffnete, schwitzte er und hatte sich irgendwie an die Decke hochgestoßen, wo er sein Handgelenk verletzte, um sich abzufangen, ehe er mit dem Kopf anstieß. Schmerz kämpfte mit der Übelkeit, aber die Übelkeit siegte. Es dauerte einige Karambolagen, bis er das Kontrollpaneel traf und auf den Knopf drückte, der ihn wieder in den Gravitationsring zurückbrachte. Als die Tür aufging, ließ er sich sanft auf dem Boden nieder. Nach einer Minute kehrte die Marsschwere zurück, und die Tür, durch die er hereingekommen war, öffnete sich wieder. Er hüpfte dankbar hinaus und litt nur noch an dem Schmerz eines verrenkten Handgelenkes. Übelkeit war viel schlimmer als der Schmerz, dachte er — wenigstens gewisse Stufen von Schmerz. Er würde seinen Blick nach draußen durch die Fernseher bekommen.
Er blieb nicht allein. Die meisten Passagiere und die gesamte Besatzung verbrachten den größeren Teil ihrer Zeit in dem Gravitationsring, der deshalb recht besetzt war, wie ein volles Hotel, in dem die meisten Gäste ihre Zeit hauptsächlich im Restaurant und an der Bar verbrachten. Art hatte Berichte über die Streckenshuttles gesehen und gelesen, die diese wie fliegende Monte Carlos darstellten, mit ständigen Bewohnern aus der Zahl der Reichen und Gelangweilten. Eine populäre Fernsehserie hatte gerade einen solchen Schauplatz.
Arts Schiff, die Ganesh, war nicht so. Es war klar, daß sie schon längere Zeit durch das innere Sonnensystem fuhr, und immer voll ausgelastet. Die Innenräume wurden schäbig und schienen sehr klein zu sein, wenn man auf den Ring beschränkt war, viel kleiner, als man nach jenen Schiffen urteilte, die historische Shows über die Ares vermuten ließen. Aber die Ersten Hundert hatten in ungefähr fünfmal so viel Raum gelebt als der Ring der Ganesh, die fünfhundert Passagiere beförderte.
Aber die Reise dauerte nur drei Monate. Also setzte Art sich hin und schaute TV, wobei er sich auf Dokumentarfilme vom Mars konzentrierte. Er aß im Speiseraum, der so ausgestattet war, daß er wie der eines großen Ozeandampfers der 1920er Jahre aussah. Er spielte etwas im Casino, das wie eines der in Las Vegas der 1970er dekoriert war. Aber meistens schlief er und sah fern. Diese beiden Aktivitäten gingen ineinander über, so daß er sehr deutlich vom Mars träumte, während die Filme eine sehr surreale Logik gewannen. Er sah die berühmten Videobänder der Russell-Clayborn- Debatte und träumte in dieser Nacht, daß er erfolglos mit Ann Clayborn diskutierte, die genau wie in den Videos wie die Farmersfau in American Gothic aussah, nur hagerer und strenger. Auch ein anderer Film, der von einer fliegenden Sonde aufgenommen war, beeindruckte ihn stark. Die Sonde war von der Seite einer der großen Klippen von Marineris abgestiegen und fast eine Minute lang gefallen, ehe sie sich abfing und tief über das Gewirr von Fels und Eis auf dem Boden der Schlucht raste. In den folgenden Wochen träumte Art, daß er selbst diesen Sturz machte, und wachte erst beim Aufprall auf. Es schien, daß Teile seines Unterbewußtseins fühlten, seine Entscheidung, zum Mars zu gehen, sei ein Fehler gewesen. Er zuckte darüber die Achseln, aß seine Mahlzeiten und praktizierte sein Gehen. Er wartete seine Zeit ab. Irrtum oder nicht, er hatte sich verpflichtet.
Fort hatte ihm ein Chiffriersystem gegeben und ihn angewiesen, sich regelmäßig zu melden und zu berichten. Aber bei der Überfahrt fand er sehr wenig zu sagen. Er schickte pflichtbewußt monatlich einen Bericht, immer dasselbe: Wir sind unterwegs. Alles sieht gut aus. Es kam nie eine Antwort.
Und dann schwoll der Mars auf den Bildschirmen an wie eine geschleuderte Orange, und bald danach wurden sie in ihre Gravitationsliegen durch eine äußerst heftige Luftbremsung gepreßt und danach wieder in die Sitze ihrer Landefähren. Aber Art überstand diese einen platt machenden negativen Beschleunigungen wie ein Veteran. Nach einer Woche im Orbit, immer noch rotierend, dockten sie bei New Clarke an. Der hatte nur eine äußerst geringe Schwerkraft, die die Leute kaum auf dem Boden hielt und den Eindruck erweckte, Mars wäre über den Köpfen. Arts Raumkrankheit kam wieder. Und er mußte zwei Tage warten, ehe seine Reservierung für eine Fahrt im Aufzug kam.
Die Wagen des Lifts erwiesen sich als schmale hohe Hotels. Sie brachten ihre dicht gedrängte menschliche Fracht binnen fünf Tagen zum Mars. Dabei herrschte keine nennenswerte Schwerkraft bis auf die letzten paar Tage, wenn sie immer stärker wurde, bis der Aufzugswagen bremste und sich sanft in die Aufnahmevorrichtung senkte, die man die ›Steckdose‹ nannte, gleich westlich von Sheffield auf Pavonis Mons. Dann wurde die Schwerkraft so ähnlich wie im Ring der Ganesh. Aber eine Woche Raumkrankheit hatte Art völlig fertiggemacht. Als sich der Aufzugswagen öffnete und sie in etwas hinausgeleitet wurden, das einem Flughafenterminal sehr ähnlich sah, fand er sich kaum imstande zu gehen und staunte, wie sehr Übelkeit den Lebenswillen schwächte. Es waren vier Monate vergangen, seit er das Fax von William Fort bekommen hatte.
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