»An diese Nacht wirst du dich sicher auch erinnern«, sagte Maja.
Sie tauschten kurze Geschichten aus über die größte Kälte, welche sie erlebt hatten. Die zwei russischen Frauen konnten zehn Fälle aufzählen, die kälter gewesen waren als die kältesten, mit denen Sax oder Art aufwarten konnten. Art fragte: »Wie wäre es mit dem heißesten Erlebnis? Da kann ich gewinnen. Ich war einmal bei einem Holzsägewettbewerb in der Kettensägeabteilung. Dabei kommt es darauf an, wer die stärkste Säge hat. Darum tauschte ich den Motor der meinigen mit einem von einer Harley-Davidson aus und schnitt das Holz in weniger als zehn Sekunden. Aber die Motoren von Motorrädern haben Luftkühlung, und meine Hände wurden ganz schön heiß!«
Sie lachten. Maya erklärte: »Das zählt nicht. Es war nicht dein ganzer Körper.«
Es waren weniger Sterne zu sehen als zuvor. Erst schob Nadia das auf den feinen Staub in der Luft oder die Schwierigkeit mit ihren sandigen Augen. Aber dann schaute sie auf ihr Armband und sah, daß es fast fünf Uhr morgens war. Bald kam die Dämmerung. Und Libya-Bahnhof war nur noch ein paar Kilometer entfernt. Die Temperatur betrug 256 Kelvin.
Sie kamen bei Sonnenaufgang an. Es wurden Tassen mit heißem Tee ausgegeben, der wie Ambrosia duftete. Der Bahnhof war so voll, daß man nicht hineingehen konnte, und mehrere tausend Leute warteten draußen. Aber die Evakuierung war seit einigen Stunden glatt verlaufen, organisiert von Vlad, Ursula und einer ganzen Schar Bogdanovisten. Auf allen drei Pisten kamen immer noch Züge aus Osten, Süden und Westen an. Sie wurden rasch beladen und fuhren gleich wieder ab. Und Luftschiffe schwebten über den Horizont ein. Die Bevölkerung von Burroughs wurde aufgeteilt. Einge kamen nach Elysium, einige nach Hellas und weiter südlich nach Hiranyagarbha und Christianopolis, andere zu den kleinen Städten auf dem Weg nach Sheffield einschließlich Underhill.
So warteten sie, bis sie an die Reihe kamen. In dem Dämmerlicht konnten sie erkennen, daß bei allen die Augen stark von Blut unterlaufen waren, was zusammen mit den von Staub bedeckten Masken noch über den Mündern den Leuten ein wildes und blutiges Aussehen gab. Sicher müßte man im Freien Schutzbrillen tragen.
Endlich geleiteten Zeyk und Marina die letzte Gruppe in den Bahnhof. Bis dahin hatten einige der Ersten Hundert einander gefunden und sich an einer Wand zusammengedrängt, angezogen von dem Magnetismus, der sie in einer Krise immer zusammenführte. In der letzten Gruppe waren mehrere von ihnen: Maya und Michel, Nadia, Sax und Ann, Vlad, Ursula, Marina, Spencer, Ivana, der Cojote …
Drüben an den Gleisen dirigierten Jackie und Nirgal Menschen in Züge. Sie schwenkten die Arme wie Dirigenten einer Sinfonie und beruhigten jene, deren Beine in letzter Minute versagten. Die Ersten Hundert gingen zusammen auf den Bahnsteig. Maya übersah Jackie, als sie hinter ihr auf einen Zug zuging. Nadia folgte Maya hinein, und dann kam der Rest von ihnen. Sie gingen den Mittelgang entlang, vorbei an all den fröhlichen zweifarbigen Gesichtern — braun mit Staub von oben und sauber um den Mund herum. Auf dem Boden lagen einige schmutzige Gesichtsmasken, aber die meisten Leute hielten sie noch beim Gehen zusammengefaltet in den Händen.
Bildschirme vorn in jedem Waggon übertrugen einen Film, den ein Luftschiff von Burroughs zeigte, das an diesem Morgen ein See aus von Eis bedecktem Wasser war, wobei das Eis vorherrschte, obwohl überall auch schwarze eisfreie Stellen waren. Über diesem neuen See standen die neun Mesas der Stadt, jetzt neun Inseln mit steilen Klippen, nicht sehr hoch. Die restlichen Dachgärten und Fensterreihen wirkten über dem schmutzigen Packeis sehr merkwürdig.
Nadia und der Rest der Ersten Hundert folgten Maya durch die Waggons bis zum letzten. Maya wandte sich um und sah sie alle, die das kleine Abteil des Zuges füllten, und sagte: »Was, geht der hier nach Underhill?«
»Odessa«, sagte Sax zu ihr.
Sie lächelte.
Leute standen auf und gingen nach vorn, damit sich die alten in dem Schlußabteil zusammen hinsetzen konnten. Und sie lehnten diese Höflichkeit nicht ab. Sie bedankten sich und nahmen Platz. Bald danach waren auch die Abteile vor ihnen voll. Vlad sagte etwas darüber, daß der Kapitän als letzter das sinkende Schiff verläßt.
Nadia fand diese Bemerkung deprimierend. Sie war jetzt wirklich müde und konnte sich nicht erinnern, wann sie zum letzten Mal geschlafen hatte. Sie hatte Burroughs gern gehabt, und eine große Anzahl von Mannstunden war hineingeflossen, es zu erbauen… Sie entsann sich, was Nanao über Sabishii gesagt hatte. Auch Burroughs war in ihren Gedanken. Vielleicht würden sie, wenn sich die Küste des neuen Ozeans gefestigt hatte, irgendwo anders ein neues Burroughs erbauen.
Vorerst nun saß Ann auf der anderen Seite des Waggons, und Cojote kam durch den Mittelgang zu ihnen, blieb stehen, um das Gesicht an das Fensterglas zu pressen, und machte Nirgal und Jackie, die noch draußen waren, ein Zeichen mit erhobenem Daumen. Beide stiegen einige Waggons vor dem letzten in den Zug. Michel lachte über etwas, das Maya gesagt hatte; und Ursula, Marina, Vlad, Spencer — diese Mitglieder von Nadias Familie waren um sie und in Sicherheit, wenigstens für den Moment. Und da dieser Moment alles war, das sie je gehabt hatte … fühlte sie, wie sie in ihrem Sitz zerschmolz. Sie würde in wenigen Minuten eingeschlafen sein. Das spürte sie an ihren trockenen brennenden Augen. Der Zug setzte sich in Bewegung.
Sax schaute auf sein Armband, und Nadia fragte ihn schläfrig: »Was geschieht auf der Erde?«
»Der Meeresspiegel steigt noch. Er ist jetzt vier Meter höher. Es sieht so aus, als hätten die Metanationalen die Kämpfe eingestellt, jedenfalls zeitweilig. Der Weltgerichtshofhat einen Waffenstillstand ausgehandelt. Praxis hat alle Hilfsmittel in Fluthilfe gesteckt. Einige andere Metanationalen scheinen es ebenso machen zu wollen. Die UN-Generalversammlung ist in Mexico City zusammengetreten. Indien hat erklärt, einen Vertrag mit einer unabhängigen Marsregierung zu haben.«
»Das ist eine verteufelte Geschichte«, sagte Cojote von der anderen Seite des Abteils. »Indien und China sind für uns zu groß, um damit fertig zu werden. Abwarten und zusehen!«
»Also ist der Kampf da unten zu Ende?« sagte Nadia.
»Es ist noch nicht sicher, ob das für die Dauer ist oder nicht«, erwiderte Sax.
Maya knurrte. »Auf keinen Fall währt er ewig.«
Sax zuckte die Achseln.
»Wir müssen eine Regierung bilden«, sagte Maya, »und zwar schnell, und der Erde eine geschlossene Front bieten. ]e besser etabliert wir wirken, desto weniger ist es wahrscheinlich, daß sie uns vernichtend angreifen werden.«
»Sie werden kommen«, sagte Cojote vom Fenster her.
»Nicht, wenn wir sie überzeugen, daß sie von uns alles bekommen werden, das sie sich selbst genommen hätten«, sagte Maya, die sich über Cojote ärgerte. »Das wird sie mäßigen.«
»Kommen werden sie auf jeden Fall.«
»Wir werden nie außer Gefahr sein, ehe nicht die Erde ruhig und stabilisiert ist«, erklärte Sax.
»Die Erde wird nie zur Ruhe kommen«, warf Cojote ein.
Sax zuckte die Achseln.
»Wir sind es, die sie beruhigen müssen!« rief Maya und zeigte mit einem Finger auf Cojote. »Um unserer selbst willen!«
»Die Erde areoformen«, sagte Michel mit einem ironischen Lächeln.
»Gewiß, warum nicht?« sagte Maya. »Wenn es erforderlich ist.«
Michel beugte sich vor und gab Maya einen Kuß auf ihre staubige Wange.
Cojote schüttelte den Kopf und sagte: »Das ist, als wollte man die Welt ohne einen Angelpunkt bewegen.«
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