Scheinwerfer von Rovern stachen durch den Staub, den sie aufwühlten. Als Nadia das sah, überlegte sie, ob die Kohlendioxidfilter nicht durch den Grus verstopft werden könnten. Sie sprach das laut aus, und Ann sagte: »Es hilft, wenn du die Maske ab und zu fest gegen das Gesicht drückst und kräftig pustest. Du kannst auch den Atem anhalten, sie abnehmen und mit Druckluft ausblasen, wenn du einen Kompressor hast.«
Sax nickte.
»Du kennst diese Masken?« fragte Nadia.
Ann nickte. »Ich habe viele Stunden damit verbracht, sie zu benutzen.«
»Okay, gut!« Nadia experimentierte mit ihrer Maske, hielt den Stoff fest gegen ihren Mund und blies kräftig hindurch. Sie empfand rasch Atemmangel. »Wir sollten versuchen, auf der Piste und den Straßen zu gehen und den Staub zu verringern. Und sag den Rovern, daß sie langsamer fahren sollen!«
Sie marschierten weiter. Im Laufe der nächsten paar Stunden verfielen sie in eine Art von Rhythmus. Niemand überholte sie, und niemand blieb zurück. Es wurde immer noch kälter. Scheinwerfer von Rovern beleuchteten teilweise die Tausende von Menschen vor ihnen bis zum hohen, vielleicht zwölf oder vierzehn Kilometer vor ihnen liegenden Horizont im Süden auf dem langen Anstieg. Die Kolonne erstreckte sich bis dahin als eine hüpfende und eingrenzende Sammlung von Scheinwerferlichtern, Taschenlampenstrahlen und dem roten Licht der Schlußlichter. Ein seltsamer Anblick. Gelegentlich hörte man ein Brummen über ihnen, wenn Luftschiffe von South Fossa ankamen und mit voller Beleuchtung wie protzige UFOs dahinschwebten. Ihre Motoren brummten, wenn sie sich heruntersenkten, um für die Wagen Verpflegung und Wasser abzuladen und vom Ende der Kolonne Gruppen aufzunehmen. Dann summten sie wieder in die Luft und waren fort. Sie verschwanden im Osten über dem Horizont.
Während des Zeitrutsches versuchte eine Schar übermütiger junger Eingeborener zu singen; aber es war zu kalt und zu trocken, so daß sie das nicht lange durchhielten. Nadia gefiel dieser Gedanke, und sie sang in Gedanken viele ihrer alten Lieblingslieder: ›Hallo, Zentrale, gib mir Dr. Jazz!‹, ›Ein Loch ist im Eimer‹, ›Auf der Sonnenseite der Straße‹. Immer und immer wieder.
Je länger die Nacht dauerte, desto besser wurde ihre Stimmung. Der Plan schien zu funktionieren. Sie kamen nicht an Hunderten ausgestreckter Leute vorbei, obwohl seitens der Wagen verlautete, daß eine merkliche Anzahl der jungen Leute kurzatmig geworden wären und zu schnell schlapp gemacht hätten und jetzt Hilfe brauchten. Sie alle waren von 500 Millibar auf 340 gegangen, was auf der Erde einem Anstieg von 4000 auf 6500 Meter entsprach, kein unbeträchtlicher Sprung, selbst bei dem höheren Prozentsatz an Sauerstoff in der Luft des Mars, der die Effekte milderte. Also gab es Fälle von Höhenkrankheit. Diese pflegte die Jüngeren sowieso mehr zu treffen als die älteren; und viele von denen waren sehr enthusiastisch losgezogen. Darum mußten sie jetzt dafür bezahlen, indem eine ganze Anzahl an Kopfschmerzen und Übelkeit litt. Aber die Wagen meldeten Erfolg, indem sie die einen kurz vor dem Erbrechen aufgenommen und die anderen eskortiert hatten. Und die Nachhut der Kolonne hielt ein gleichmäßiges Tempo ein.
So trottete Nadia weiter, manchmal Hand in Hand mit Maya oder Art, manchmal in ihrer eigenen Welt. Ihr Geist wanderte in der schneidenden Kälte und erinnerte sie an merkwürdige Bruchstücke der Vergangenheit. Sie dachte an einen anderen gefährlichen Marsch in der Kälte, den sie in dieser ihrer Welt unternommen hatte, draußen im großen Sturm mit John beim Rabe-Krater… auf der Suche nach dem Transponder mit Arkady … mit Frank in Noctis Labyrinthus in der Nacht, da sie dem Angriff auf Cairo entkamen … Auch in jener Nacht war sie in eine verrückte kalte Fröhlichkeit verfallen — vielleicht als Reaktion auf eine Befreiung von Verantwortung, indem sie nicht mehr als ein Fußsoldat wurde, der der Führung von jemand anderem folgte. Einundsechzig war eine solche Katastrophe gewesen. Auch diese Revolution konnte sich zu einem Chaos entwickeln. Das hatte sie sich eigentlich schon. Niemand hatte die Führung. Aber über ihr Armband kamen von überall her noch Stimmen herein. Und niemand würde sie aus dem Weltraum angreifen. Die radikalsten Elemente der Übergangsbehörde waren in Kasei Vallis wahrscheinlich getötet worden — ein Aspekt von Arts integrierter Seuchenbekämpfung, der kein Spaß war. Und der Rest der UNTA war rein zahlenmäßig überwältigt worden. Sie waren so wie jeder andere auch nicht fähig, einen ganzen Planeten von Dissidenten zu beherrschen. Oder zu verängstigt, es zu versuchen.
Also hatten sie es geschafft, es diesmal anders zu machen. Oder aber die Verhältnisse auf der Erde hatten sich einfach geändert, und alle verschiedenen Phänomene der Geschichte des Mars waren nur verzerrte Abklatsche dieser Veränderungen. Durchaus möglich. Ein beunruhigender Gedanke, wenn man die Zukunft betrachtete. Aber das kam erst später. Sie würden mit alledem konfrontiert sein, wenn es so weit wäre. Jetzt mußten sie sich nur Gedanken machen, den Libya- Bahnhof zu erreichen. Der rein physische Charakter dieses Problems und seiner Lösung gefiel ihr ungeheuer. Endlich etwas, bei dem sie mit Hand anlegen konnte. Gehen. Die kalte Luft atmen. Die Lungen aus dem Rest von ihr erwärmen, vom Herzen aus — etwas wie Nirgals unheimliche Umverteilung von Wärme, wenn sie das nur könnte!
Es schien so, als ob sie wirklich kleine Ausbrüche von Schlaf erhaschen könnte, während sie ging. Sie fürchtete, es könnte sich um Kohlendioxidvergiftung handeln, raffte sich aber von Zeit zu Zeit immer wieder auf. Ihre Kehle war sehr wund. Das hintere Ende der Kolonne wurde immer langsamer, und Rover fuhren jetzt dorthin zurück, nahmen alle Erschöpften auf und fuhren sie bergauf zum Libya-Bahnhof, wo sie sie absetzen und für eine andere Ladung zurückkehren konnten. Sehr viel mehr Leute begannen, an Höhenkrankheit zu leiden; und die Roten sagten Betroffenen über ihre Armbänder, wie sie die Masken ablegen und speien und dann die Masken wieder aufsetzen könnten, ehe sie wieder atmeten. Bestenfalls eine schwierige und unangenehme Maßnahme, zumal viele sowohl an Kohlendioxidvergiftung wie Höhenkrankheit litten. Aber sie kamen ihrem Ziel näher. Die Armbandbilder vom Libya-Bahnhof sahen aus wie das Innere einer Untergrundbahn von Tokio zur Stoßzeit; aber regelmäßig kamen Züge an und fuhren ab, so daß es schien, daß für später Ankommende Raum sein würde.
Ein Rover fuhr neben ihnen vor und fragte, ob sie mitgenommen werden wollten. Maya sagte: »Macht euch fort von hier! Seht ihr nicht, was los ist? Los, helft den Leuten da, verschwendet nicht weiter unsere Zeit!«
Der Fahrer verschwand rasch, um weiterem Tadel zu entgehen. Maya sagte heiser: »Zur Hölle mit so etwas! Ich bin hundertdreiundvierzig Jahre alt und will verdammt sein, wenn ich nicht den ganzen Weg marschiere. Laßt uns etwas schneller gehen!«
Sie behielten ihr Tempo bei. Sie blieben weiter am Ende der Kolonne und beobachteten die Parade der Lichter, die im Dunst vor ihnen hüpften. Nadias Augen schmerzten schon seit einigen Stunden; aber jetzt wurde das wirklich schlimm. Die Taubheit der Kälte half offenbar nicht mehr. Die Augen waren äußerst trocken und sandig in den Höhlen. Zwinkern verursachte stechende Schmerzen. Es wäre eine gute Idee gewesen, neben den Masken auch Schutzbrillen zu haben.
Nadia stolperte über einen Stein, den sie nicht gesehen hatte; und ihr fiel eine Erinnerung aus ihrer Jugend ein. Einmal hatten sie und ihre Arbeitskameraden im Winter in südlichen Ural eine Lastwagenpanne gehabt. Sie mußten vom Ende der verlassenen Tscheljabinsk-65 bis Tscheljabinsk-40 marschieren, über fünfzig eisige Kilometer stalinistisch verwüsteten industriellen Ödlands — schwarze aufgegebene Fabriken, zerbrochene Schornsteine, umgefallene Zäune, ausgeweidete Lastwagen… alles in der schneeigen kalten Winternacht unter niedrigem Gewölk. Sie erzählte Maya, Art und Sax davon mit rauher Stimme. Die Kehle tat weh, aber nicht so schlimm wie die Augen. Sie hatten sich an Interkoms gewöhnt. Es war merkwürdig, durch die Luft zwischen ihnen zu sprechen. Aber sie wollte reden. »Ich weiß nicht, wie ich jemals diese Nacht habe vergessen können. Aber ich habe seit sehr langer Zeit nicht mehr daran gedacht. Es muß vor — na — hundertzwanzig Jahren gewesen sein.«
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