»Bleibt in Bewegung!« sagte Nadia zu ihnen und zu allen anderen. Man erwartete, daß es am Nachmittag wärmer würde, vielleicht bis über den Gefrierpunkt.
Innerhalb der dem Untergang geweihten Stadt ragten die Mesas starr und dramatisch in das Morgenlicht wie ein titanisches Museum von Kathedralen. Die Fensterreihen waren wie Juwelen, und das Blattwerk auf den Gipfeln bildete kleine grüne Gärten. Die Bevölkerung der Stadt stand in der Ebene, maskiert wie Banditen oder Heuschnupfenpatienten, dick in Kleider gewickelt, manche in knappen beheizten Schutzanzügen und ein paar mit Helmen für späteren Gebrauch im Bedarfsfall. Der ganze Pilgerzug stand da und schaute auf die Stadt zurück. Menschen auf der Oberfläche des Mars, die Gesichter der kalten dünnen Luft ausgesetzt, die Hände in den Taschen, über ihnen hohe (Zirruswolken wie Metallspäne vor dem dunkelroten Himmel. Die Fremdartigkeit des Anblicks war zugleich erheiternd und erschreckend. Nadia ging an der Hügelreihe auf und ab und sprach mit Zeyk, Sax, Nirgal, Jackie und Art. Sie schickte sogar noch eine Nachricht an Ann in der Hoffnung, daß sie die bekommen würde, obwohl sie nie antwortete. »Vergewissere dich, daß die Sicherheitstruppen am Raumhafen keine Schwierigkeiten machen!« sagte sie, unfähig, den Ärger aus ihrer Stimme fernzuhalten. »Bleibt ihnen aus dem Wege!«
Ungefähr zehn Minuten später piepste das Armband. »Ich weiß«, sagte Anns Stimme knapp. Und das war alles.
Jetzt, da sie aus der Stadt heraus waren, fühlte Maya sich frohgemut. Sie rief: »Laßt uns losmarschieren! Bis zum Libya-Bahnhof ist es ein weiter Weg, und der halbe Tag ist schon vorbei.«
»Stimmt«, sagte Nadia. Und viele Leute waren schon aufgebrochen, stapften über die Piste, die vom Südbahnhof von Burroughs ausging, und folgten ihr den Hang der Großen Böschung hinauf.
Sie ließen die Stadt hinter sich. Nadia blieb oft stehen, um den Leuten Mut zuzusprechen, und schaute ebenso oft nach Burroughs zurück, auf die Dächer und Gärten unter der transparenten Blase des Zeltes im mittäglichen Sonnenschein, hinab in diesen grünen Mesokosmos, der so lange die Hauptstadt ihrer Welt gewesen war. Jetzt war rostig-schwarzes und von Eis geflecktes Wasser schon fast um die ganze Stadtmauer gelaufen; und ein dicker Strom schmutziger Eisberge trieb von der niedrigen Lücke nach Nordosten und ergoß sich in einem sich verbreiternden Schwall auf die Stadt zu. Er erfüllte die Luft mit einem Donnern, das die Haare im Nacken zu Berge stehen ließ. Ein Getöse wie damals in Marineris …
Das Land, über das sie gingen, war mit zerstreuten niedrigen Pflanzen übersät, zumeist Tundramoos und alpine Blumen mit gelegentlichen Gruppen von Eiskakteen, die wie stachlige schwarze Feuerhydranten dastanden. In der Luft schwirrten Mücken und Fliegen, die durch die fremde Invasion aufgescheucht worden waren. Es war merklich wärmer als am Morgen. Die Temperatur stieg rasch an. »Zweihundertzweiundsiebzig!« rief Nirgal, als Nadia ihn im Vorübergehen fragte. Er kam alle paar Minuten vorbei. Er lief an den Leuten vom einen Ende der Reihe bis zum anderen hin und her. Nadia sah auf ihr Handgelenk: 272 K. Der Wind war schwach und kam aus Südwesten. Die Wetterberichte sagten, daß eine Zone hohen Luftdrucks noch mindestens einen Tag über Isidis verweilen würde.
Die Leute gingen in kleinen Gruppen und trafen dabei auf andere kleine Gruppen, so daß Freunde und Bekannte sich im Weitergehen begrüßten, oft überrascht durch vertraute Stimmen unter den Masken und vertraute Augen zwischen Maske und Kapuze oder Hut. Von der Menge stieg eine diffuse Reifwolke auf, eine Massenausatmung, die in der Sonne schnell verdunstete. Rover der Roten Armee waren von beiden Seiten der Stadt herangefahren und beeilten sich, von der Flut wegzukommen. Jetzt rollten sie langsam dahin. Ihre Vorreiter gaben Flaschen mit warmen Getränken aus. Nadia sah sie an und murmelte im Schutz ihrer Maske stumme Verwünschungen. Aber einer der Roten erkannte das an ihren Augen und sagte zu ihr gereizt: »Wir waren es nicht, die den Deich gebrochen haben, mußt du wissen. Es waren die Guerilleros von MarsErst. Es war Kasei!«
Und er fuhr weiter.
Es wurde vereinbart, daß Schluchten östlich der Strecke als Latrinen benutzt werden sollten. Man war schon weit genug nach oben gestiegen, daß die Leute oft anhielten, um in die eigenartig leere Stadt hinunterzuschauen mit ihrem neuen Burggraben von rostigem, von Eis verstopftem Wasser. Gruppen Eingeborener sangen beim Gehen Teile der Areophanie. Als Nadia das hörte, krampfte sich ihr Herz zusammen. Sie murmelte: »Verdammt, Hiroko! Komm heraus, komm noch heute heraus!«
Sie entdeckte Art und ging zu ihm hinüber. Er gab über das Armband einen laufenden Kommentar, den er offenbar einer Nachrichtengesellschaft auf der Erde übermittelte. »O ja«, sagte er schnell beiseite, als Nadia ihn danach fragte. »Wir sind live. Auch wirklich gutes Video. Da bin ich sicher. Und sie können das Szenario der Flut weitergeben.«
Ohne Zweifel. Die Stadt mit ihren Mesas, jetzt von schwarzem, mit Eis verstopftem Wasser umgeben, das leicht dampfte. Die Oberfläche war aufgewirbelt, die Ränder sprudelten heftig durch Karbonisierung, wenn Wellen, die einen Lärm machten wie ein schwerer Sturm, von Norden her aufbrandeten … Die Lufttemperatur lag jetzt gerade über dem Gefrierpunkt, und das ansteigende Wasser blieb flüssig, selbst wenn es von Treibeisstücken bedeckt war. Nadia hatte noch nie etwas gesehen, das ihr deutlicher die Tatsache verriet, daß sie die Atmosphäre umgestaltet hatten — weder die Pflanzen noch das Blau des Himmels noch auch ihre Fähigkeit, die Augen frei zu halten und durch dünne Masken zu atmen. Der Anblick des Wassers, das während der Überschwemmung von Marineris gefror, wobei es in zwanzig Sekunden oder weniger von Schwarz zu Weiß wurde, hatte sie tiefer geprägt, als sie wußte. Jetzt hatten sie offenes Wasser. Die niedrige breite Bruchstelle, die Burroughs festhielt, sah wie eine gargantuanische Meeresbucht aus, die von der Flut aufgerissen wurde.
Die Leute stießen Rufe aus. Ihre Stimmen füllten die dünne Luft wie Vogelgesang über dem tiefen Continuo der Flut. Nadia wußte nicht, warum. Dann sah sie es — am Raumhafen gab es Bewegung.
Der Raumhafen lag auf einem breiten Plateau nordwestlich der Stadt; und auf ihrer jetzigen Höhe auf dem Abhang konnte die Bevölkerung von Burroughs da stehen und zusehen, wie sich die großen Tore des größten Hangars öffneten und fünf riesige Raumflugzeuge nacheinander herausrollten. Ein ominöser und irgendwie militärischer Anblick. Die Flugzeuge rollten zum Hauptterminal des Hafens, und Landebrücken fuhren aus und rasteten an ihren Seiten ein. Es ereignete sich nichts weiter, und die Flüchtlinge gingen fast eine Stunde lang auf die ersten richtigen Berge der Großen Böschung zu, bis trotz der Höhe die Rollbahnen des Raumhafens und die unteren Hälften der Hangars unter dem wässerigen Horizont lagen. Die Sonne stand inzwischen im Westen.
Die Aufmerksamkeit richtete sich auf die Stadt selbst, als das Wasser die Kuppelmauer auf der Ostseite von Burroughs aufriß und über deren Krone am Südwesttor strömte, wo sie den Stoff zerschnitten hatten. Bald danach überflutete es den Princess Park, Kanalpark und das Niederdorf, teilte die Stadt damit in zwei Teile und stieg langsam die Seitenboulevards empor, um die Dächer im unteren Teil der Stadt zu bedecken.
Mitten in diesem Schauspiel erschien einer der großen Jets am Himmel über dem Plateau. Er schien zum Fliegen viel zu langsam zu sein, wie es bei großen Flugzeugen in Bodennähe immer zu sein pflegt. Er war in Richtung Süden gestartet. Darum wurde er für die Zuschauer auf dem Boden ständig größer, ohne anscheinend an Tempo zu gewinnen, bis das tiefe Brummen der Motoren sie erreichte und die Maschine über ihre Köpfe pflügte mit der langsamen unmöglichen Schwerfälligkeit einer Hummel. Als sie nach Westen dahinrumpelte, erschien die nächste über dem Raumhafen und wandte sich an der von Wasser überschwemmten Stadt vorbei und über die Leute gen Westen. Und eins folgte dem anderen, und alle sahen gleichermaßen aerodynamisch aus, bis das letzte an ihnen vorbei am westlichen Horizont verschwunden war.
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