Es half ihr, das zu hören. Und es half ihr zu kämpfen. Es würde alles in Ordnung sein. Sie würde sich besser fühlen, wenigstens ein paar Wochen oder ein paar Tage lang. Die Vergangenheit war ohnehin so mit Löchern gespickt, eine struppige Sammlung von Bildern. Schließlich würde sie wirklich vergessen. Obwohl die am festesten haftenden Erinnerungen durch einen Leim aus Schmerz und Gewissensbissen gebunden zu sein schienen. Darum dürfte es einige Zeit dauern, sie zu vergessen, auch wenn sie so nagend, schmerzlich und nutzlos waren. Nutzlos! Besser sich auf die Gegenwart zu konzentrieren.
Während sie eines Nachmittags, allein in ihrem Apartment, diese Überlegungen anstellte, starrte sie lange auf des Bild des jungen Frank an der Spüle. Sie überlegte, es herunterzunehmen und wegzuwerfen. Ein Mörder. Sich auf die Gegenwart konzentrieren. Aber auch sie war eine Mörderin. Und auch der, welcher ihn zum Mord getrieben hatte. Wenn man immer alles auf alles zurückführte. Auf jeden Fall war er dabei irgendwie ihr Gefährte gewesen. Als sie lange darüber nachgedacht hatte, entschied sie sich, das Foto hängen zu lassen.
Aber im Lauf der Monate und des langen Rhythmus der Tage mit dem Zeitrutsch und der sechs Monate währenden Jahreszeiten wurde das Bild nicht mehr als ein Teil der Ausstattung, wie das Gestell mit Zangen und hölzernen Schaufeln oder die aufgehängte Reihe von Töpfen und Pfannen mit kupfernen Böden oder die kleinen Salz-und-Pfeffer-Behälter in Schiffsform. Das war alles ein Teil der Bühne, die für diesen Akt des Spiels eingerichtet war, wie sie manchmal dachte. So dauerhaft das auch schien, es würde völlig verschwinden, wie alle vorgegangenen Einrichtungen verschwunden waren, während sie zur nächsten Inkarnation fortschritt. Oder auch nicht.
So vergingen die Wochen und dann die Monate, vierundzwanzig im Jahr. Der Monatserste fiel hintereinander so viele Monate lang auf einen Montag; daß das für immer festgelegt zu sein schien. Und dann war ein Drittel eines Marsjahres vergangen, und endlich erschien eine neue Jahreszeit; es verging ein Monat von siebenundzwanzig Tagen, und plötzlich fiel der Erste auf einen Sonntag, und nach einer Weile würde das auch als ewige Norm erscheinen, einen Monat nach dem anderen. Und so ging es immer und immer weiter. Die langen Jahre des Mars drehten sich langsam im Kreise.
Draußen rings um Hellas schien man die meisten wichtigen Wasserlager entdeckt zu haben, und die Bemühungen verschoben sich völlig auf bergmännische Arbeiten und Rohrbau. Die Schweizer hatten kürzlich etwas erfunden, das sie eine gehende Pipeline nannten, eigens für die Arbeit in Hellas gemacht und oben auf Vastitas Borealis installiert. Diese verrückten Apparate rollten durch die Gegend und verteilten das Grundwasser gleichmäßig über das Land, so daß man den Boden des Beckens erfassen konnte, ohne direkt am Ende fester Pipelines Berge von Eis zu erzeugen, wie man es zuvor zu tun pflegte.
Maya zog mit Diana los, um eines dieser Rohre in Tätigkeit zu sehen. Aus einem darüber schwebenden Luftschiff sah es fast aus wie ein auf dem Boden liegender Gartenschlauch, der sich unter dem hohen Druck des herauschießenden Wassers hin und her schlängelte.
Unten auf dem Boden war es noch eindrucksvoller und sogar bizarr. Die Pipeline war riesig groß und rollte majestätisch über Schichten aus glattem Eis, das schon abgelagert war. Auf flachen Pylonen, die in mächtigen Ponton-Skis endeten, wurde das Rohr einige Meter über dem Eis gehalten und bewegte sich mit mehreren Kilometern in der Stunde, gestoßen durch den aus seiner Düse schießenden Wasserstrahl, die in verschiedene, durch Computer bestimmte Richtungen zeigte. Wenn die Pipeline bis zum Ende ihres Bogens geglitten war, drehten Motoren die Düse; und die Pipeline wurde langsamer, hielt an und kehrte die Richtung um.
Das Wasser schoß in einem dicken weißen Strahl aus der Düse, der einen Boden bildete und in einem Sprühregen aus rotem Staub und weißen Reifschwaden auf die Oberfläche schlug. Dann floß das Wasser über den Grund in großen schlammigen schleifenförmigen Güssen, wurde langsam, setzte sich flach ab, wurde weiß und wandelte sich langsam zu Eis. Das war allerdings kein reines Eis; sondern Nährstoffe und verschiedene Stämme von Eisbakterien waren dem Wasser aus großen Bioreservoiren hinzugefügt worden, die hinten an der Küstenlinie lagen. Darum hatte das neue Eis eine milchig rosige Färbung und schmolz schneller als reines Eis. Ausgedehnte Schmelzteiche, praktisch seichte Seen von vielen Quadratkilometern Fläche, waren in diesem Sommer ein tägliches Ereignis und auch an sonnigen Tagen im Frühling und Herbst. Die Hydrologen meldeten auch große Schmelzteiche unter der Oberfläche. Und als die Temperaturen weltweit zu steigen begannen und die Eisablagerungen im Becken dicker wurden, schmolzen die Bodenschichten anscheinend unter dem Druck. So glitten große Eisschollen über diese Schmelzzonen auch die sanftesten Hänge hinunter und sammelten sich in großen Haufen über allen besonders tief gelegenen Punkten des Beckenbodens in Gebieten, die phantastische Ödländer aus Druckgraten, Eiszacken und Schmelztümpeln waren, die jede Nacht einfroren, und Eisblöcken wie umgestürzte Wolkenkratzer. Diese großen instabilen Eishaufen verschoben sich und zerbrachen, wenn sie in der Wärme des Tages schmolzen, mit donnernden Explosionsschlägen, die man in Odessa und jeder anderen am Rang gelegenen Stadt hörte. Dann froren die Haufen in jeder Nacht mit dröhnendem Krachen wieder ein, bis an vielen Stellen auf dem Boden des Beckens ein unvorstellbares Trümmerchaos herrschte.
Über solche Flächen zu fahren war unmöglich, und der einzige Weg, die Vorgänge auf dem größten Teil des Beckens zu beobachten, war aus der Luft. In einer Woche im Herbst M-48 beschloß Maya, mit Diana, Rachel und einigen anderen einen Ausflug zu der kleinen Siedlung auf der Anhöhe im Zentrum des Beckens zu unternehmen. Man nannte sie schon Insel Minus Eins, obwohl sie noch nicht ganz eine Insel war, da die Zea Dorsa noch nicht überflutet waren. Aber es war nur eine Sache von Tagen, bis das letzte Stück davon bedeckt sein würde. Und Diana dachte, wie auch einige andere Hydrologen im Büro, es wäre eine gute Idee, hinauszugehen und das historische Ereignis zu beobachten.
Kurz vor dem geplanten Abreisetermin erschien Sax selbst in ihrem Apartment. Er war unterwegs von Sabishii nach Vishniac und war vorbeigekommen, um Michel zu besuchen. Maya freute sich, daß sie bald fort sein und deshalb während seiner Anwesenheit, die sicher kurz sein würde, nicht anwesend sein müßte. Es war ihr immer noch unangenehm, in seiner Nähe zu sein; und es war klar, daß das auf Gegenseitigkeit beruhte. Er vermied weiter, ihrem Blick zu begegnen, und redete mit Michel und Spencer. Niemals ein Wort für sie! Natürlich hatten er und Michel Hunderte von Stunden während Saxens Rehabilitierung verbracht; aber es erboste sie trotzdem.
Als er von ihrer bevorstehenden Reise zu Minus Eins hörte und fragte, ob er mitkommen dürfe, war sie darum sehr unangenehm überrascht. Aber Michel warf ihr blitzartig einen beschwörenden Blick zu; und Spencer fragte, ob auch er mitkommen könne, ohne Zweifel, um zu verhindern, daß sie Sax aus dem Luftschiff stoßen würde. Und so stimmte sie mürrisch zu.
Als sie dann einige Morgen später starteten, hatten sie ›Stephen Lindholm‹ und ›George Jackson‹ dabei, zwei alte Männer, über die Maya sich nicht bemühte, den anderen Auskunft zu geben, da sie sah, daß Diana, Rachel und Frantz alle wußten, wer sie waren. Die jungen Leute waren alle etwas gedämpft, als sie in die lange Gondel des Luftschiffs kletterten, weshalb Maya die Lippen mißmutig zusammenzog. Es würde nicht dieselbe Reise werden, wie sie ohne Sax geworden wäre.
Die Fahrt von Odessa zur Insel- Minus Eins dauerte etwa vierundzwanzig Stunden. Das Luftschiff war kleiner als die pfeilspitzenförmigen Behemothe der frühen Jahre. Dieses war ein zigarrenförmiges Vehikel, genannt Drei Diamanten; und die Gondel, welche den Kiel bildete, war lang und geräumig. Obwohl die ultraleichten Propeller stark genug waren, um einige Geschwindigkeit zu entwickeln und recht starken Winden zu widerstehen, kam es Maya doch vor wie eine kaum kontrollierte Drift. Das Summen der Motoren war unter dem Brausen des Westwindes kaum vernehmbar. Sie trat an ein Fenster und schaute nach unten, den Rücken Sax zugekehrt.
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