Ganz gleich, für welches Meeresniveau sie sich entschieden, ein großer südlicher Arm des Ozeans würde Isidis Planitia bedecken, das tiefer lag als der größte Teil von Vastitas. Und es wurden auch Reservoire in den Gebirgen um Isidis hineingepumpt. Es würde also eine große Bucht die alte Ebene füllen; und deswegen errichteten Bautrupps einen langen Deich in einem Bogen um Burroughs herum. Diese Stadt lag der Großen Böschung recht nahe; lag aber knapp unter der Normhöhe. Darum würde sie genau so eine Hafenstadt werden wie Odessa — eine Hafenstadt an einem die Welt umspannenden Ozean.
Der Deich, den sie um Burroughs bauten, war zweihundert Meter hoch und dreihundert Meter breit. Maya fand das Projekt, einen Deich zu errichten, um die Stadt zu schützen, beunruhigend, obwohl nach den Luftbildern klar war, daß es sich um ein weiteres pharaonisches Monument handelte, hoch und massiv. Es verlief hufeisenförmig mit beiden Enden oben auf dem Hang der Großen Böschung und war so groß, daß es Pläne gab, darauf Bauten zu errichten und einen modischen Lido daraus zu machen, mit kleinen Bootshäfen an der Wasserseite. Aber Maya erinnerte sich, wie sie einstmals in Holland auf einem Deich gestanden hatte mit dem Land auf der einen Seite, das niedriger war als die Nordsee auf der anderen. Das war ein sehr verwirrender Eindruck gewesen, mehr von Ungleichgewicht als Schwerelosigkeit. Und auf mehr rationaler Ebene war es so, daß Nachrichtenprogramme von der Erde jetzt zeigten, wie alle Deiche dort ständig durch einen ganz langsamen Anstieg des Meeresspiegels bis an die Grenzen beansprucht wurden infolge der zwei Jahrhunderte früher bewirkten globalen Erwärmung. Schon ein Anstieg um ein Meter gefährdete viele tiefliegende Gebiete der Erde; und der nördliche Ozean des Mars sollte im kommenden Jahrzehnt um einen vollen Kilometer steigen. Wer konnte sagen, daß sie imstande sein würden, das endgültige Niveau so fein hinzukriegen, daß ein Damm ausreichen würde? Mayas Arbeit in Odessa hatte sie gegenüber einer solchen Kontrolle mißtrauisch gemacht, obwohl sie es in Hellas natürlich auch selbst probierten und glaubten, es geschafft zu haben. Allerdings hatten sie es besser, da die Lage von Odessa keinen großen Fehlerspielraum ließ. Die Hydrologen sprachen auch davon, den ›Kanal‹, den die Luftlinse vor ihrer Zerstörung gebrannt hatte, als Ablauf in den nördlichen Ozean zu benutzen, falls ein solcher nötig sein sollte. Fein für sie, aber der nördliche Ozean würde keinen solchen Rücklauf haben.
»Oh«, sagte Diana, »sie pumpen jeden Überschuß immer in das Argyre-Becken.«
Auf der Erde wurden Revolten, Brandstiftung und Sabotage tägliche Waffen der Leute, die die Behandlung nicht bekommen hatten — die Sterblichen, wie man sie nannte. Um alle großen Städte entstanden ummauerte Siedlungen, Festungsvororte, wo jene, die die Behandlung bekommen hatten, ihr ganzes Leben verbringen konnten mit Benutzung von Fernverbindungen, Fernbedienungen, tragbaren Generatoren und sogar Gewächshausnahrung, ja sogar Luftfiltriersystemen. Faktisch wie in den Kuppelstädten auf dem Mars.
Eines Abends ging Maya, die von Michel und Spencer genug hatte, aus, um allein zu essen. Sie hatte oft das Bedürfnis, allein zu sein. Sie ging zu einem Eckcafe am Fußweg gegenüber der Corniche und setzte sich an einen Tisch im Freien unter Bäumen, die mit Lampions behängt waren. Sie bestellte Antipasto und Spaghetti und aß zerstreut, wozu sie eine kleine Karaffe Chianti trank und dem Spiel einer kleinen Band lauschte. Der Leader spielte eine Art Akkordeon mit lauter Knöpfen, ein sogenanntes Bandonion, und seine Kameraden spielten Violine, Gitarre, Piano und Baß. Eine Schar runzliger alter Männer, Burschen ihres Alters, tobten umher mit einer flotten Attacke durch melancholisch lustige Lieder — Zigeunermelodien, Tangos, alte Schmachtfetzen, die sie gemeinsam zu improvisieren schienen … Nach dem Essen blieb sie noch lange Zeit sitzen, hörte ihnen zu, genoß ein letztes Glas Wein und dann einen Kaffee. Sie sah den anderen beim Essen zu und hatte über sich die Blätter und hinter der Corniche die ferne Eislandschaft. Über Hellespontus wälzten sich Wolken heran. Sie versuchte so wenig wie möglich zu denken. Das funktionierte eine Weile, und sie machte einen wonnevollen Ausflug in ein älteres Odessa, in ein Europa des Geistes, das so süß und traurig war wie die Duette von Geige und Akkordeon. Aber dann fingen die Leute am Nebentisch an, darüber zu diskutieren, ein wie hoher Prozentsatz der Erdbevölkerung die Behandlung erhalten hätte — die einen meinten zehn Prozent, andere vierzig —, ein Zeichen des Informationskrieges oder einfach des Maßes an Chaos, das dort herrschte. Als sie sich von ihnen abwandte, bemerkte sie eine Schlagzeile auf dem Nachrichtenschirm über der Bar und las die Sätze, die von rechts nach links abrollten. Der Weltgerichtshof hatte seine Tätigkeit unterbrochen, um von Den Haag nach Bern umzuziehen; und Consolidated hatte die Gelegenheit dieser Unterbrechung genutzt, um gewaltsam die Besitztümer von Praxis in Kaschmir an sich zu bringen, was praktisch den Beginn eines Staatsstreichs oder Kleinkriegs gegen die kaschmirische Regierung von der Basis von Consolidated in Pakistan aus bedeutete. Indien würde natürlich mit hineingezogen werden. Und Indien hatte in letzter Zeit auch mit Praxis gute Geschäftsbeziehungen gepflegt. Indien contra Pakistan, Praxis contra Consolidated — der größte Teil der Weltbevölkerung nicht behandelt und verzweifelt…
Als Maya an diesem Abend nach Hause kam, sagte Michel, daß dieser Überfall für den Weltgerichtshof eine Hebung seines Ansehens bedeute, insofern Consolidated seine Aktion zeitlich auf den Umzug des Gerichts abgestimmt hätte. Aber angesichts der Verwüstung in Kaschmir und der Umkehrentwicklung für Praxis war Maya nicht in der Stimmung, ihm zuzuhören. Michel war so stur optimistisch, daß es ihr manchmal unklug erschien oder zumindest erschwerte, ihm nahe zu sein. Eines mußte man zugeben: Sie lebten in einer sich verdüsternden Situation. Der Zyklus von Wahnsinn kam auf der Erde wieder in Gang in seiner unerbittlichen Sinuswelle, einer Welle, die noch schlimmer war als die Mayas. Bald würden sie wieder in einem jener unkontrollierten Paroxysmen stecken und darum ringen, der Vernichtung zu entgehen. Das konnte sie fühlen. Sie erlebten einen Rückfall.
Maya machte sich zur Gewohnheit, regelmäßig in dem Eckcafe zu speisen, die Band zu hören und allein zu sein. Sie saß mit dem Rücken zur Bar; aber es war unmöglich, sich nicht Gedanken zu machen über die Erde, ihren Kurs und ihre Erbsünde. Sie versuchte zu verstehen, sie versuchte, es so zu sehen, wie Frank es gesehen hätte, und versuchte, seine Stimme zu hören, wie er es analysierte. Die Gruppe der Elf (die alte G-7 plus Korea, Azania, Mexico und Rußland) hatte noch nominell das Kommando über einen großen Teil der Macht der Erde in Form von Militär und Kapital. Die einzigen echten Konkurrenten für diese alten Dinosaurier waren die großen Metanationalen, die wie Athene aus den Transnationalen hervorgegangen waren. Die großen Transnationalen — und in der Ökonomie der zwei Welten war definitionsgemäß nur für etwa ein Dutzend von ihnen Raum — waren natürlich daran interessiert, Länder in der Elfergruppe zu übernehmen, wie sie es mit so vielen kleineren Ländern schon getan hatten. Die Metanationalen, die bei diesem Bemühen Erfolg hätten, würden wahrscheinlich das Spiel um die Vorherrschaft untereinander gewinnen. Darum versuchten einige von ihnen, die G-11 zu teilen und zu erobern. Dabei taten sie ihr Bestes, die Elf gegeneinander aufzuhetzen oder einige zu bestechen, um die Reihen zu brechen. In dieser ganzen Zeit konkurrierten sie gegeneinander, so daß, während einige sich mit G-11-Ländern verbündet hatten, um sie sich unterzuordnen, andere sich auf ärmere Länder oder die Babytiger konzentriert hatten, um deren Kraft zu stärken. So gab es ein komplexes Gleichgewicht der Kräfte. Die stärksten alten Nationen standen gegen die größten neuen Metanationalen; und die Islamische Liga, Indien, China und die kleineren Metanationalen existierten als unabhängige Kraftzentren und Mächte, über die man nichts voraussagen konnte. Somit war das Gleichgewicht der Kräfte wie jedes momentane Gleichgewicht zerbrechlich. Das mußte so sein, da die Hälfte der Erdbevölkerung in Indien und China lebte — ein Umstand, den Maya nie ganz glauben oder verstehen konnte. Geschichte war so seltsam; und man konnte nicht wissen, zu welcher Seite dieser Hälfte der Menschheit sich die Waage neigen würde.
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