Und natürlich warf das zuerst die Frage auf, warum es so viel Streit gab. Warum nur, Frank? dachte sie, während sie dasaß und den ergreifenden melancholischen Tangos lauschte. Was ist die Motivation dieser metanationalen Herrscher? Aber sie konnte sein zynisches Grinsen sehen aus den Jahren, da sie ihn gekannt hatte. Reiche haben lange Halbwertszeiten, hatte er ihr gegenüber einmal bemerkt. Und die Idee des Imperiums hat die längste Halbwertszeit von allen. Darum saßen da Leute herum und versuchten noch, Dschingis Khan zu sein und die Welt ohne Rücksicht auf die Kosten zu regieren — leitende Angestellte in den Metanationalen, Anführer in der Gruppe der Elf, Generale in den Armeen …
Nun hatte die Erde, wie ihr mentaler Frank ruhig und brutal zu verstehen gab, eine begrenzte Fassungskraft. Die Menschen hatten sie überzogen. Viele würden deshalb sterben. Das wußte ein jeder. Der Kampf um Rohstoffe war entsprechend verbissen. Die Kämpfer waren völlig rational. Aber verzweifelt.
Die Musiker spielten weiter. Ihre schroffe Nostalgie war im Verlauf der Monate noch bitterer geworden, und der lange Winter kam; und sie spielten im schneeigen Dämmerlicht, während sich die ganze Welt verdunkelte, entre chien et loup. In diesem so kleinen und mutigen Bandoniongewinsel, in diesen leichten Melodien, die allen entgegentönten, war normales Leben, an das man sich hartnäckig klammerte in einem Lichtfleck unter Bäumen mit kahlen Zweigen.
Diese Besorgnis war ihr so vertraut. So hatte man sich in den Jahren vor ’61 gefühlt. Obwohl sie sich nicht an irgendwelche einzelnen Ereignisse und Krisen der letzten Vorkriegsperiode erinnern konnte, konnte sie sich dennoch jenes Gefühls entsinnen, als ob es durch einen vertrauten Geruch angeregt würde. Wie nichts eine Rolle zu spielen schien, wie selbst die besten Tage blaß und kühl waren unter den schwarzen Wolken, die sich im Westen zusammenballten. Wie die Freuden der Stadt eine groteske verzweifelte Schärfe gewannen. Alle saßen sozusagen mit dem Rücken zur Bar und taten ihr Bestes, um einem Gefühl von Einschränkung und Hilflosigkeit entgegenzuwirken. O ja, das war echtes dejä vu.
Wenn sie dann durch Hellas reisten und mit Gruppen des Freien Mars zusammenkamen, war Maya den Leuten dankbar, die kamen und sich bemühten zu glauben, daß ihre Aktionen einen Unterschied bewirken könnten, selbst angesichts des großen Wirbels, der sich unter ihnen drehte. Maya erfuhr von ihnen, daß Nirgal, wohin er kam, offenbar gegenüber den anderen Eingeborenen darauf beharrte, daß die Lage auf der Erde für ihr eigenes Schicksal kritisch wäre, so groß die Entfernung auch scheinen mochte. Und das hatte Wirkung. Jetzt waren die Leute, die zu den Versammlungen kamen, voll von Nachrichten über Consolidated, Amexx und Subarashii und die jüngsten neuen Einfälle der UNTA-Polizei in das Gebirge des Südens, welche dazu gezwungen hatten, Overhangs und viele versteckte Zufluchtsstätten aufzugeben. Der Süden wurde entleert. Alle, die sich versteckt gehalten hatten, strömten nach Hiranyagarbha, Odessa oder in die Canyons von Ost-Hellas.
Einige der jungen Eingeborenen, die Maya traf, schienen zu denken, daß die Aneignung des Südens durch die UNTA im Grunde gut wäre, da sie den Countdown auslösen würde. Sie wandte sich sofort gegen solche Auffassungen und sagte ihnen: »Es sind nicht sie, die den Zeitplan bestimmen dürften. Das liegt bei uns, und wir müssen auf unseren Augenblick warten. Und dann alle zusammen handeln. Wenn ihr das nicht einseht…«
Dann seid ihr Narren!
Aber Frank hatte bei seinen Auftritten immer wild um sich geschlagen. Diese Leute brauchten etwas mehr — oder, um genauer zu sein, sie verdienten etwas mehr. Etwas Positives, etwas, das-sie ebenso zog wie antrieb. Frank hatte das auch gesagt, aber selten danach gehandelt. Sie mußten verführt werden wie die nächtlichen Tänzer an der Corniche. Wahrscheinlich waren diese Menschen an allen anderen Abenden der Woche draußen bei der Promenade an der Wasserfront. Und Politik mußte etwas von jener erotischen Energie hinzugewinnen, sonst handelte es sich nur um ressentiment und Schadensbegrenzung.
Also verführte Maya sie. Sie tat es selbst dann, wenn sie besorgt, erschrocken oder in schlechter Stimmung war. Sie stand zwischen ihnen und dachte an Sex mit diesen großen geschmeidigen jungen Männern; und dann setzte sie sich in ihrer Mitte hin und stellte ihnen Fragen. Sie sah ihnen in die Augen, ihnen, die so groß waren, daß sie, wenn sie auf einem Tisch saß, mit ihnen in Augenhöhe war, wenn sie auf Stühlen saßen. Sie verwickelte sie in eine Konversation, die so vertraulich und vergnüglich war, wie sie es nur machen konnte. Was verlangten sie vom Leben, vom Mars? Oft lachte sie laut auf bei ihren Antworten, überrascht durch ihre Harmlosigkeit oder ihren Witz. Sie hatten selbst schon von Marsbildern geträumt, die radikaler waren als alles, an das Maya glauben konnte. Von einem Mars, der wirklich unabhängig war, gleichmacherisch, gerecht und fröhlich. Und in mancher Weise hatten sie diese Träume schon verwirklicht. Viele von ihnen hatten jetzt ihre kleinen Bauten zu geräumigen kommunalen Apartments umgestaltet; und sie arbeiteten in ihrer alternativen Wirtschaft, die immer weniger Verbindung mit der Übergangsbehörde oder den Metanationalen hatte — einer Ökonomie, die beherrscht wurde von Marinas Öko-Ökonomie und Hirokos Areophanie, von den Sufis und Nirgal und diesem vagabundierenden Zigeunerregiment der Jungen. Sie hatten das Gefühl, für immer zu leben. Sie fühlten sich in einer Welt sinnlicher Schönheit. Ihre Gefangenschaft in Kuppeln war normal, aber nur ein Übergang. Eine Geborgenheit in warmen mesokosmischen Mutterschößen, auf die unausweichlich ihr Hinaustreten auf eine freie lebendige Oberfläche folgen würde — durch ihre Geburt, jawohl!
Sie waren embryonische Are-urgen, um Michels Ausdruck zu gebrauchen, junge Götter, die ihre Welt betrieben und wußten, daß sie frei werden sollten, und zuversichtlich waren, dahin zu kommen, und zwar bald.
Es kamen schlechte Nachrichten von der Erde, und der Besuch der Versammlungen stieg an. Und in diesen Meetings herrschte keine Stimmung von Angst, sondern von Entschlossenheit wie in der Miene von Frank auf dem Foto über ihrer Spüle. Ein Kampf zwischen den früheren Verbündeten Armscor und Subarashii um Nigeria führte zum Einsatz biologischer Waffen (beide Seiten lehnten die Verantwortung ab), so daß Menschen, Tiere und Pflanzen in Lagos und seiner Umgebung von schrecklichen Krankheiten heimgesucht wurden. In den Versammlungen jenes Monats sprachen die jungen Leute wütend und mit blitzenden Augen vom Mangel jeder Gesetzlichkeit auf der Erde, dem Fehlen jeglicher Autorität, der man vertrauen könnte. Die metanationale Weltordnung war zu gefährlich, als daß man ihr gestatten dürfe, den Mars zu beherrschen!
Maya ließ sie eine Stunde lang reden, ehe sie etwas anderes sagte als: »Ich weiß.« Und ob sie es wüßte! Ihr kamen fast die Tränen, wenn sie sah, wie entsetzt sie über Ungerechtigkeit und Grausamkeit waren. Dann nahm sie die Punkte der Erklärung von Dorsa Brevia einzeln vor und schilderte, wie ein jeder ausdiskutiert war und was er besagte und wie sich seine Verwirklichung in der realen Welt für ihr Leben auswirken würde. Die jungen Leute wußten darüber mehr als sie; und diese Teile der Diskussion feuerten sie mehr an als alles Jammern über die Erde. Weniger besorgt und mehr begeistert. Und bei dem Versuch, eine auf die Deklaration gegründete Zukunft zu schildern, brachte sie sie oft zum Lachen. Lustige Szenarien einer kollektiven Harmonie, alle zufrieden und glücklich. Sie kannten die ärgerliche gedrängte Realität ihrer gemeinsamen Apartments, und so war es wirklich lustig. Das Licht in den Augen lachender junger Marsmenschen — selbst Maya, die nie lachte, fühlte, wie ein leichtes Lächeln die unsichtbare Karte von Runzeln veränderte, die ihr Gesicht darstellte.
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