Jetzt können wir nur noch abwarten, sagte sich Norton. Und dabei ist es wichtig, nicht die Geduld zu verlieren, wichtig, bereit für eine Reaktion in Sekundenschnelle zu sein, alle Instrumente funktions- und aufnahmebereit zu halten, wie lange es auch dauern mag… Aber das war seltsam: das Sternenfeld verschob sich, beinahe so, als habe er die Rolltriebwerke aktiviert. Dabei hatte er keinen der Kontrollschalter berührt, und wenn eine tatsächliche Bewegung stattgefunden hätte, das wäre sofort zu spüren gewesen.
„Skipper!“ rief Calvert aufgeregt von der Navigationskabine.
„Wir rollen — sehen Sie sich die Sterne an! Aber ich bekomme keine Reaktion auf den Instrumenten!“
„Funktionieren die Rollstabilisatoren?“
„Völlig normal — Nadel zittert auf Null. Aber trotzdem rollen wir pro Sekunde um mehrere Grade!“
„Das ist unmöglich!“
„Sicher ist es unmöglich. Aber sehen Sie doch selbst…“
Wenn alles andere versagte, mußte man sich eben auf die natürlichen Instrumente, die Augen, verlassen.
Norton konnte nicht daran zweifeln: das Sternenfeld rotierte tatsächlich langsam. Dort verschwand der Sirius über den Rand der Backbordseite.
Entweder hatte das Universum sich sehr plötzlich entschlossen, gemäß einer vorkopernikanischen Kosmologie um die Endeavour zu kreisen, oder die Sterne standen still und das Schiff drehte sich.
Die letzte Erklärung schien doch etwas plausibler, aber sie brachte unlösbare Paradoxa mit sich. Wenn das Schiff sich tatsächlich mit dieser Geschwindigkeit drehte, dann würde Norton es unbedingt gespürt haben müssen. Und die Stabilisatoren konnten nicht alle gleichzeitig ausgefallen sein.
Es blieb nur eine Antwort übrig. Jedes Atom der Endeavour mußte von irgendeiner Kraft gepackt worden sein — und nur ein sehr starkes Schwerkraftfeld konnte dies bewirken.
Jedenfalls konnte kein anderes bekanntes Feld… Plötzlich verschwanden die Sterne. Der lohende Diskus der Sonne war hinter dem Schattenschild Ramas aufgetaucht und hatte sie im Himmel ausgelöscht.
„Haben Sie Radarangaben? Wie hoch ist der Dopplereffekt?“
Norton rechnete fest damit, daß auch dies ausgefallen war, doch hier irrte er sich.
Rama war endlich unterwegs und beschleunigte mit bescheidenen 0,015 G. Norton sagte sich: Dr. Perera müßte jetzt eigentlich mit sich zufrieden sein. Er hatte eine Maximalbeschleunigung von 0,02 prognostiziert. Und die Endeavour war irgendwie in die Heckwelle geraten und saß da fest wie ein Stück Treibgut, das hinter einem davoneilenden Schiff herumwirbelt… Stunde um Stunde blieb die Beschleunigung Ramas konstant. Rama fiel mit ständig wachsender Geschwindigkeit von der Endeavour fort. Je größer die Entfernung wurde, desto schwächer wurde das anomale Verhalten des Raumschiffs. Die normalen Gesetze der Trägheit begannen wieder zu wirken. Man konnte nur Vermutungen anstellen über die Energien, in deren Rückstoß sie kurze Zeit gefangen gewesen waren, und Norton war dankbar für seine Vorsicht, die ihn die Endeavour in eine sichere Entfernung hatte bringen lassen, bevor Rama seine Triebwerke aktiviert hatte.
Und was diesen Antrieb anging, so war eins jetzt jedenfalls klar, wenn auch alles andere ein Geheimnis blieb. Rama hatte keine Gasdüsen, keine Ionenstrahlen oder Plasmaschubwerke, die ihn auf seine Bahn hätten bringen können. Am besten drückte es der akademische Sergeant Myron aus, als er voll erschrokkener Ungläubigkeit sagte: „Und da verschwindet Newtons Drittes Gesetz!“
Aber auf eben dieses Dritte Newtonsche Gesetz mußte sich die Endeavour am darauffolgenden Tag verlassen, als sie ihre allerletzten Treibstoffreserven einsetzte, um ihr Flugbahn von der Sonne weg aufzunehmen. Die Veränderung war nur geringfügig, aber sie würden die Entfernung zum Perihelion um zehn Millionen Kilometer vergrößern. Und das bedeutete einen Unterschied: man brauchte nun nicht mehr die Kühlsysteme mit fünfundneunzig Prozent ihrer Kapazität zu belasten und — den sicheren Tod riskieren.
Als sie ihre Flugbahnmanöver beendet hatten, war Rama bereits zweihunderttausend Kilometer weit entfernt, und es war schwierig, ihn gegen den brutalen Glanz der Sonne auszumachen.
Aber noch immer erhielten sie exakte Radarmessungen über seine Flugbahn.
Und je länger sie diese verfolgten, desto verwirrter wurden sie.
Sie überprüften die Zahlenangaben wieder und wieder, bis ihnen schließlich nichts anderes übrigblieb, als die unglaubliche Schlußfolgerung zu akzeptieren. Es sah so aus, als ob alle Ängste der Hermianer, die Heldentaten Rodrigos und die ganzen rhetorischen Wasserfälle der Generalversammlung der UP vollkommen umsonst gewesen wären.
Was für eine Ironie des Kosmos, sagte sich Norton, als er sich die endgültigen Berechnungen ansah, wenn die Computer in Rama nach Millionen Jahren sicherer Steuerung einen winzigen Fehler gemacht haben — wenn sie etwa in einer Gleichung ein Pluszeichen in ein Minus verwandelt haben.
Sie waren alle so sicher gewesen, daß Rama an Geschwindigkeit verlieren und vom Schwerkraftfeld der Sonne eingefangen werden würde und daß er so zu einem neuen Planeten im Sonnensystem werden müsse. Und Rama tat genau das Gegenteil.
Es gewann an Schnelligkeit — und noch dazu in der denkbar schlechtesten Richtung.
Rama fiel immer rascher auf die Sonne zu.
Je eindeutiger die Einzelheiten der neuen Flugbahn Ramas erfaßbar wurden, desto schwerer fiel es, nicht zu glauben, daß diese Welt in eine sichere Katastrophe stürzen müsse. Nur eine Handvoll Kometen waren je so nahe an der Sonne vorbeigezogen; und Rama würde am Perihelion weniger als eine halbe Million Kilometer von dieser Hölle aus brennendem Wasserstoff entfernt sein. Keine Materie war imstande, diese Temperaturen auszuhalten; die harte Legierung, die Ramas Rumpf schützte, würde bereits in zehnfacher Entfernung zu schmelzen beginnen.
Die Endeavour hatte nun ihr eigenes Perihelion hinter sich gebracht, und jeder fühlte sich erleichtert. Nun flog das Raumschiff auf einer Bahn, die es langsam immer weiter von der Sonne entfernte. Rama lag weit vor ihnen auf seinem engeren und schnelleren Orbit, und es sah jetzt schon aus, als befinde er sich in den äußersten Protuberanzen der Korona. Die Endeavour würde dem letzten Akt der Tragödie von einem Logenplatz aus beiwohnen können.
Dann begann Rama plötzlich, knappe fünf Millionen Kilometer von der Sonne entfernt, sich einen Kokon zu spinnen. Bislang war er in den schärfsten Teleskopen der Endeavour noch immer als ein winziger heller Stern sichtbar gewesen; nun begann er plötzlich zu flimmern wie ein Stern, den man im Dunst eines Horizontes sieht. Es hatte beinahe den Anschein, als löse sich Rama auf. Und Norton verspürte einen scharfen Stich des Bedauerns, als er sah, wie das Bild zerfloß, wie da so viel Wunderbares verlorenging. Dann wurde ihm klar, daß Rama ja noch immer vorhanden war, daß er sich nur mit einem schimmernden Nebel umgeben hatte.
Und dann war Rama verschwunden. Statt dessen sah Norton ein helles sternenähnliches Objekt, das keine sichtbare Scheibe aufwies — als hätte Rama sich plötzlich zu einem winzigen Ball zusammengezogen.
Es dauerte eine Weile, bevor ihnen klarwurde, was da geschah. Rama war tatsächlich verschwunden: er war nun von einer absolut reflektierenden Kugel umgeben, die etwa hundert Kilometer im Durchmesser maß. Sie konnten jetzt nur noch die Widerspiegelung der Sonne selbst sehen, die von der ihnen zugewandten Seite reflektiert wurde. Aller Wahrscheinlichkeit nach befand sich Rama hinter dieser schützenden Blase in Sicherheit vor den höllischen Kräften der Sonne.
Die Stunden vergingen, und die Blase veränderte ihre Gestalt. Das Spiegelbild der Sonne verzerrte sich, wurde länglich. Die Kugelform verwandelte sich in ein Ellipsoid, der lange Achsenpunkt wies in die Flugrichtung Ramas.
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