Rodrigo hatte mit dem zweiten Kabelstrang so wenig Schwierigkeiten wie mit dem ersten.
Wie alle guten Handwerker hatte auch er seine Werkzeuge gut ausgewählt. Die Bombe war jetzt entschärft. Oder — um präzise zu sein — sie konnte nicht mehr durch Fernsteuerung gezündet werden… Allerdings gab es noch eine andere Möglichkeit, und Boris Rodrigo durfte sich nicht erlauben, sie zu übersehen. Es gab jetzt zwar keine äußeren Kontaktzündungen mehr, doch es konnte eingebaute geben, die durch Aufprall aktiviert werden würden. Die Hermianer waren noch immer in der Lage, die Flugbahn ihrer Trägerrakete zu bestimmen, und sie konnten sie zu einem Zusammenstoß mit Rama manövrieren, wann immer sie wollten. Rodrigos Aufgabe war noch immer nicht völlig beendet.
In fünf Minuten würde man ihn in einer Kontrollkabine irgendwo auf dem Merkur auf den Bildschirmen sehen, wie er an der Außenseite ihrer Rakete entlangkroch, die schlichte Drahtschere in der Hand, die die gewaltigste Waffe, die die Menschheit jemals zum Einsatz bringen wollte, wirkungslos gemacht hatte.
Fast fühlte Boris sich versucht, der oder den Kameras zuzuwinken, doch es schien ihm dann doch ein wenig würdelos: immerhin war er gerade dabei, Geschichte zu machen, und Millionen von Menschen würden künftig diese Szene im Fernsehen verfolgen. Das hieß, sofern es die Hermianer nicht vorzogen, in einem Anfall von Pikiertheit die Bänder zu vernichten.
Und er könnte es ihnen nicht einmal verdenken.
Er war jetzt an der Verankerung der Interspace- Antenne angekommen und hantelte sich Meter für Meter bis zu ihrem Ende, der großen Rundstrahlantenne, vor. Seine zuverlässige Drahtschere wurde auch mit dem multiplen Infosystem leicht fertig und kappte die Kabel ebenso leicht wie die Laser-Ortungsmechanismen.
Als er den letzten Draht durchgeschnitten hatte, begann die Antenne langsam zu kreisen.
Diese überraschende Bewegung verwirrte ihn einen Moment, doch dann wurde ihm klar, daß er die automatische Fixierung auf den Merkur unterbrochen haben mußte. Fünf Minuten später würden die Hermianer jeden Kontakt mit ihrem Sklaven verloren haben. Denn dieser Sklave war jetzt nicht nur aktionsunfähig, er war auch blind und taub geworden.
Rodrigo kletterte langsam wieder in seinen Skooter zurück. Er löste die Verankerung und wendete das Fahrzeug, bis die Vorderstoßstangen gegen die Rakete gepreßt waren, und zwar so dicht an ihrem Masseschwerpunkt wie möglich.
Dann zog er den Schub auf volle Kraft, soviel die Zellen nur hergaben, und hielt ihn dort etwa zwanzig Sekunden lang.
Da der Skooter es mit einer Masse zu tun hatte, die die seinige um ein Mehrfaches überstieg, reagierte er sehr langsam. Als Rodrigo den Antrieb auf Null drosselte, nahm er zugleich eine sorgfältige Analyse des Geschwindigkeitsvektors der Bombe vor.
Jetzt würde das Geschoß weit an Rama vorbeizielen.
— Außerdem könnte man es künftig nach Belieben wieder orten. Schließlich handelte es sich um ein äußerst wertvolles Stück Ausrüstung.
Und Leutnant Rodrigo war ein Mann von nahezu pathologischer Ehrlichkeit. Er wollte den Hermianern keinesfalls die Chance bieten, ihn der Veruntreuung ihres Eigentums zu beschuldigen.
„Liebling“, begann Norton, „dieser Quatsch hat uns über einen Tag gekostet, aber wenigstens bekomme ich so die Gelegenheit, mit dir zu reden.
Ich bin noch immer im Schiff, und wir gehen jetzt zurück zur Polarachse. Wir haben Rod vor einer Stunde aufgenommen. Er sah aus, als hätte er gerade eine ruhige Wache hinter sich gebracht und gehe jetzt in Freiwache. Ich vermute, keiner von uns beiden wird je wieder den Merkur besuchen können, und ich frage mich, ob man uns als Helden oder als Schurken behandeln wird, wenn wir auf die Erde zurückkommen. Aber mein Gewissen ist rein; ich bin sicher, wir haben das Richtige getan.
Ich bin neugierig, ob die Ramaner jemals ›danke schön‹ sagen werden.
Wir können nur noch zwei Tage länger hierbleiben; im Gegensatz zu Rama verfügen wir nicht über eine kilometerdicke Haut, um uns vor der Sonne zu schützen. Der Schiffsrumpf entwickelt bereits gefährliche Überhitzungsstellen, und wir mußten an manchen Stellen bereits Abschirmungen anbringen. Tut mir leid, ich wollte dir nicht mit meinen Problemen auf die Nerven gehen… Wir haben also gerade noch Zeit für einen Trip nach Rama, und ich beabsichtige herauszuholen, was nur geht. Aber hab keine Angst — ich werde kein Risiko eingehen.“
Er stoppte die Aufzeichnung. Der letzte Satz verschleierte, um es gelinde zu sagen, die Wahrheit. Denn jeder Augenblick innerhalb Ramas war voller Gefahren und Ungewißheiten; kein Mensch konnte sich dort jemals wirklich zu Hause fühlen angesichts dieser Kräfte, die das Begriffsvermögen überstiegen. Und Norton beabsichtigte auf diesem letzten Trip, jetzt, da er wußte, daß sie danach nie wieder zurückkehren würden und daß also keine künftigen Aktionen aufs Spiel gesetzt werden könnten, sein Glück ein bißchen stärker auf die Probe zu stellen.
„In achtundvierzig Stunden werden wir also diese Mission zu Ende gebracht haben. Was dann geschieht, ist noch nicht sicher; wie du ja weißt, haben wir praktisch unseren gesamten Treibstoffvorrat aufgebraucht, um auf diese Bahn zu gelangen. Ich warte immer noch darauf, daß man mir erklärt, ob und wo ein Tankschiff zu uns stoßen kann, und zwar rechtzeitig, so daß wir zur Erde zurückkehren können, oder ob wir beim Mars eine Schwerkraftlandung machen müssen. Auf jeden Fall dürfte ich gegen Weihnachten wieder zu Hause sein.
Sag dem Junior, es tut mir leid, daß ich ihm keinen Baby-Bioten mitbringen kann; so was gibt es nämlich nicht… Es geht uns allen gut, aber wir sind ziemlich ausgepumpt. Ich habe mir einen langen Urlaub verdient, nach alledem, und wir werden die verlorene Zeit wettmachen. Was immer sie auch über mich sagen mögen, du kannst mit Recht behaupten, mit einem Helden verheiratet zu sein. Wie viele Frauen haben schon einen Mann, der eine Welt gerettet hat?“
Wie gewohnt hörte er das Band sorgfältig ab, ehe er es kopierte, um sicherzugehen, daß es für seine beiden Familien paßte. Es war ein merkwürdiges Gefühl, nicht zu wissen, welche von beiden er zuerst wiedersehen würde; im Normalfall stand sein Terminplan mindestens ein Jahr im voraus fest, da er durch die unerbittlichen Bewegungen der Planeten bestimmt wurde.
Doch dies hatte für die Zeit vor Rama gegolten.
Nun würde nichts mehr so sein wie früher.
42. KAPITEL
DER GLÄSERNE TEMPEL
„Wenn wir es versuchen“, sagte Karl Mercer, „glauben Sie, die Bioten werden uns daran hindern wollen?“
„Vielleicht. Das gehört zu den Dingen, die ich herausfinden möchte. Warum sehen Sie mich so komisch an?“
Mercer setzte sein träges verstecktes Grinsen auf, das gewöhnlich sekundenschnell von irgendeinem privaten Witz ausgelöst werden konnte, den er mit seinen Schiffskameraden teilte oder auch nicht.
„Es ist mir nur so durch den Kopf gegangen, Skipper, ob Sie vielleicht glauben, daß Rama Ihnen gehört. Bisher haben Sie jeden Versuch, in die Gebäude einzudringen, strikt verboten.
Wieso dieser Gesinnungswandel? Haben die Hermianer Ihnen einen Floh ins Ohr gesetzt?“
Norton lachte, brach aber gleich wieder ab.
Es war eine gescheite Frage, und er war nicht sicher, ob die naheliegenden Antworten auch die richtigen waren.
„Vielleicht war ich bloß zu vorsichtig — ich wollte Ärger vermeiden. Aber jetzt haben wir die letzte Chance. Wenn wir zum Rückzug gezwungen werden sollten, haben wir nicht allzu viel verpaßt.“
„Vorausgesetzt, wir ziehen uns geordnet zurück.“
„Selbstverständlich. Aber die Bioten haben sich bisher nie feindselig gezeigt; und außer den Spinnen gibt es da meiner Ansicht nach nichts, was uns einholen oder fangen könnte — falls wir abhauen müssen.“
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