Alle Bioten waren jetzt verschwunden, wie Pieter von der Nabe berichtete. In der ganzen Innenwelt Ramas gab es nun nur noch eine Bewegung, die der menschlichen Wesen, die mit schmerzlicher Langsamkeit die gekrümmten Hänge der Nordkuppel emporkletterten.
Norton hatte die Schwindelgefühle längst überwunden, die er beim ersten Anstieg empfunden hatte, nun nistete eine völlig neue Furcht in seinem Inneren. Sie alle waren hier außerordentlich verletzlich — auf dieser riesigen Kletterpartie von der Ebene bis zur Nabe; was würde passieren, wenn Rama, nachdem er seine Positionsänderung vollzogen hatte, plötzlich beschleunigen würde?
Aller Voraussicht nach würde der Schub sich längs der Achse auswirken. Wenn dies in nördlicher Richtung stattfand, wäre das kein Problem. Sie würden einfach nur ein bißchen stärker gegen den Hang gepreßt, den sie gerade hinanstiegen. Doch wenn der Schub südwärts erfolgte, dann würden sie möglicherweise in den Raum hinausgeschleudert werden und eventuell irgendwann auf die unter ihnen liegende Ebene fallen.
Norton versuchte sich mit dem Gedanken zu trösten, daß jede mögliche Beschleunigung ja nur sehr schwach sein konnte. Die Berechnungen Dr. Pereras hatten höchst überzeugend geklungen: Rama konnte kaum mit mehr als einem Fünfzigstel G beschleunigen, oder die Zylindrische See würde über die Südklippe hinüberschwappen und einen ganzen Kontinent überfluten. Aber Perera hatte in seinem bequemen Studierzimmer drunten auf der Erde gesessen. Ihn bedrohten nicht kilometerhohe Metallklippen, die allem Anschein nach jederzeit herunterstürzen konnten. Und vielleicht war ja eine periodische Überflutung in Rama eingeplant… Nein, das war einfach lächerlich. Absurd, sich einzubilden, daß all diese Trillionen Tonnen von Masse sich plötzlich beschleunigen könnten, und zwar so stark, daß er, Norton, den Halt verlor. Trotzdem ließ Norton für den Rest des Anstiegs das Geländer niemals los.
Endlos viel später endete die Treppe; jetzt waren nur noch ein paar hundert Meter senkrechter Leiter zu überwinden. Es war nicht mehr nötig, diese Leiter hinaufzuklettern, denn ein Mann an der Nabe konnte ganz leicht einen anderen gegen die abnehmende Schwerkraft emporziehen. Selbst am Fuß der Leiter wog ein Mann weniger als fünf Kilo und oben praktisch gar nichts.
Norton entspannte sich in der Sitzschlinge, griff von Zeit zu Zeit nach den Handgriffen, um den schwachen Corioliseffekt auszugleichen, der ihn von der Leiter wegzudrängen suchte. Bei diesem letzten Blick auf Rama vergaß er beinahe seine verkrampften steifen Muskeln.
Das Licht war jetzt etwa so hell wie bei Vollmond auf der Erde; die Szenerie war klar zu übersehen, doch kleinere Einzelheiten konnte er nicht mehr erkennen. Der Südpol war teilweise hinter einem leuchtenden Nebel verborgen — nur das Große Horn drang durch ihn hindurch: ein kleiner schwarzer Punkt genau ihm gegenüber.
Der sorgfältig kartographierte und doch immer noch unbekannte Kontinent jenseits der See war wieder das anscheinend zufällige Flickmuster wie zuvor. Er war zu stark verkürzt und wies zu viele komplizierte Details auf, als daß die visuelle Prüfung ergiebig gewesen wäre, und Norton überflog den Bereich nur mit einem kurzen Blick.
Seine Augen glitten rings um dies kreisförmige Band der See, er bemerkte zum erstenmal ein reguläres Muster von unruhigem Wasser. Es war, als ob die Wellen über Riffe brächen, die in geometrisch genauen Abständen angeordnet waren. Ramas Manöver zeigte seine Auswirkungen, allerdings waren sie nur geringfügig. Er war sicher, daß Sergeant Barnes unter diesen Umständen mit Vergnügen über die Zylindrische See gesegelt wäre, hätte er sie gebeten, mit ihrer verlorenen Resolution loszufahren.
New York, London, Paris, Moskau, Rom… er sagte all den Städten auf dem Nordkontinent Lebewohl und hoffte, die Ramaner würden ihm vergeben, wenn er irgendwo Schaden angerichtet hatte. Vielleicht würden sie ja Verständnis dafür aufbringen, daß alles aus wissenschaftlichem Interesse geschehen war.
Dann war er plötzlich bei der Nabe angekommen; Hände griffen eifrig nach ihm, um ihm zu helfen und ihn rasch durch die Luftschleuse zu befördern. Seine überanstrengten Arme und Beine zitterten so unkontrolliert, daß er beinahe hilflos war, und so ließ er es sich dankbar gefallen, wie ein halbgelähmter Invalide manipuliert zu werden.
Der Himmel Ramas zog sich über ihm zusammen, als er in den Zentralkrater der Nabe hinabstieg. Als die innere Schleusentür ihm den Anblick endgültig abschnitt, dachte er bei sich: Wie seltsam, daß jetzt die Nacht hereinbricht, wo Rama der Sonne am nächsten ist!
Hundert Kilometer Entfernung boten ausreichend Sicherheit, hatte Norton entschieden.
Rama war nun ein großes schwarzes Rechteck, daß ihnen genau die Breitseite bot und die Sonne verdeckte. Er hatte die Gelegenheit wahrgenommen und die Endeavour ganz in den Rama-Schatten gebracht, um die Kühlsysteme des Schiffs zu entlasten und ein paar überfällige Reparaturen ausführen zu lassen.
Ramas schützender Schattenkegel konnte jeden Augenblick verschwinden, und er wollte ihn so gut ausnutzen, wie es eben ging.
Rama wendete immer noch; inzwischen hatte er beinahe fünfzehn Grad durchlaufen, und nun konnte es überhaupt keinen Zweifel mehr geben, daß eine größere Flugbahnänderung bevorstand. Auf den Vereinten Planeten hatte die Erregung einen hysterischen Höhepunkt erreicht, doch bis zur Endeavour drang davon nur ein schwaches Echo. Körperlich und seelisch war die Besatzung erschöpft; nach dem Take-off von der Basis am Nordpol schliefen alle — bis auf eine kleine Wachmannschaft — zwölf Stunden lang. Auf Anordnung der Ärztin hatte Norton bei sich Elektroberuhigung angewendet; doch er hatte trotzdem geträumt, daß er eine endlose Treppe hinaufklettern müsse.
Am zweiten Tag nach der Rückkehr ins Schiff ging alles nahezu wieder seinen normalen Gang; die Erforschung Ramas schien bereits einem anderen Leben anzugehören. Norton begann mit der Papierarbeit, die sich auf seinem Schreibtisch angesammelt hatte, und machte Zukunftspläne. Aber er wies die Ersuchen um Interviews zurück, die sich irgendwie in die Funkverbindung von Survey und sogar von SPACEGUARD eingeschlichen hatten.
Vom Merkur lagen keine Nachrichten vor, und die Generalversammlung der UP hatte ihre Sitzung vertagt, obwohl sie innerhalb einer Stunde wieder zusammentreten konnte.
Norton gönnte sich — dreißig Stunden, nachdem sie Rama verlassen hatten — zum erstenmal eine ganze Nacht lang Schlaf, als man ihn plötzlich roh wieder in die Wirklichkeit zurückschüttelte.
Er fluchte schlaftrunken vor sich hin und blinzelte mit einem Auge: vor ihm stand Karl Mercer. Und wie jeder gute Kapitän war Norton sofort hellwach.
„Er hat aufgehört, sich zu drehen?“
„Ja. Liegt da wie ein Fels.“
„Gehn wir zur Brücke.“
Das ganze Schiff war wach. Selbst die Simps wußten, daß etwas im Gang war, und stießen ängstliche Wimmerlaute aus, bis Sergeant McAndrews sie mit einigen raschen Handsignalen beruhigte. Doch als Norton in seinen Stuhl glitt und die Halterungen um seine Taille festzog, fragte er sich, ob auch dies nicht nur wieder falscher Alarm sein werde.
Rama wirkte nun wie zu einem dicken Zylinder verkürzt; der brennende Rand der Sonne waberte über die eine Kante. Norton plazierte die Endeavour sacht wieder in den Schatten der künstlichen Sonnenfinsternis zurück und sah, wie die perlenhelle Pracht der Korona wieder vom Hintergrund der helleren Sterne auftauchte. Es zeigte sich eine riesige Protuberanz, die mindestens eine halbe Million Kilometer hoch aufschoß und die sich so weit von der Sonne entfernt hatte, daß ihre äußersten Zacken wie ein Baum von karmesinrotem Feuer wirkten.
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