Und so war damals der junge Bill Norton mit lächerlichen hundert Stundenkilometern dahingerollt und hatte wie wild teure Kohle in das Feuerloch einer Lokomotive geschaufelt, die aussah, als wäre sie zweihundert Jahre alt, aber in Wirklichkeit jünger war als er selbst. Die Strecke von dreißig Kilometern auf den Schienen der Great Western Railway dagegen war vollkommen echt, auch wenn ziemlich harte archäologische Arbeit nötig war, sie wieder funktionsfähig zu machen.
Mit gellendem Pfeifsignal waren sie in ein Tal eingebogen und durch eine rauchige flammenerhellte Finsternis ›gerast‹. Eine erstaunlich lange Zeit später brachen sie aus dem Tunnel in einen tiefen, vollkommen geraden Taleinschnitt mit steilen grasbedeckten Flanken hinaus, und dieser langvergessene visuelle Eindruck war nahezu völlig mit dem gegenwärtigen identisch.
„Was ist los, Skipper?“ fragte Leutnant Rodrigo.
„Haben Sie was gefunden?“
Norton zwang sich in die Gegenwart und in die Wirklichkeit zurück, und die Bedrückung, die er empfunden hatte, wich teilweise von ihm. Sicher — es gab hier Rätsel, aber vielleicht war das Geheimnis für menschliches Begriffsvermögen doch nicht undurchdringlich. Er hatte wieder eine wichtige Erfahrung gemacht, aber leider war es eine, die er anderen nicht so leicht mitteilen konnte. Doch er mußte unter allen Umständen verhindern, daß Rama ihn unterkriegte. Denn auf diesem Weg lag das Risiko des Mißlingens — möglicherweise sogar des Wahnsinns.
„Nein“, gab er zurück, „hier unten ist nichts.
Zieht mich wieder rauf. Wir stoßen jetzt direkt nach Paris vor.“
„Ich habe diese Sitzung des Komitees einberufen “, sagte Seine Exzellenz der Marsbotschafter bei den Vereinigten Planeten, „weil Dr. Perera uns etwas Wichtiges mitzuteilen hat. Er hat darauf bestanden, daß wir uns sofort mit Commander Norton in Verbindung setzen, und zwar über den Prioritätskanal, den wir, ich darf wohl sagen, nach Überwindung einer ganzen Reihe von Schwierigkeiten endlich erhalten konnten. Dr. Pereras Ausführungen sind weitgehend technischer Natur, darum glaube ich, daß eine Zusammenfassung der gegenwärtigen Lage angebracht sein dürfte, ehe wir uns ihnen zuwenden. Frau Dr. Price hat diese Zusammenfassung vorbereitet. Ach ja, einige Mitglieder lassen sich entschuldigen. Sir Lewis Sands kann nicht unter uns weilen, da er den Vorsitz einer anderen Konferenz übernommen hat, und Dr. Taylor bittet, ihn zu entschuldigen.“
Über das Fehlen des letzteren war er ziemlich froh. Der Anthropologe hatte rasch jedes Interesse an Rama verloren, als sich herausstellte, daß es dort für ihn wenig zu tun geben würde. Wie viele andere war er bitter enttäuscht, daß diese wandernde kleine Welt sich als tot herausgestellt hatte; es würde demnach also keine Gelegenheit für ihn geben, sensationelle Bücher und Fernsehsendungen über die Rituale und Verhaltensweisen der Ramaner zu verfassen. Andere mochten Skelette und klassische Artefakte ausbuddeln, für Conrad Taylor war das uninteressant. Das einzige, was ihn blitzartig an den Konferenztisch zurückführen könnte, war die mögliche Entdeckung irgendwelcher sensationeller Kunstwerke, vergleichbar jenen berüchtigten Fresken von Pompeji oder Thera.
Die Archäologin Thelma Price vertrat genau den gegenteiligen Standpunkt. Sie bevorzugte Ausgrabungen und Ruinen, die sie ungestört von herumwimmelnden Einwohnern leidenschaftslos untersuchen konnte. Der Boden des Mittelmeeres war dafür ideal gewesen — zumindest ehe die Städteplaner und Landschaftsarchitekten ihr in die Quere kamen. Und Rama wäre gleichfalls ideal gewesen, abgesehen von der höchst ärgerlichen Kleinigkeit, daß Rama eben hundert Millionen Kilometer entfernt war und sie niemals in der Lage sein würde, dort einen persönlichen Besuch abzustatten.
„Wie Sie alle wissen“, begann sie, „hat Commander Norton eine Traverse von fast dreißig Kilometern Strecke durchgeführt, ohne auf irgendwelche Probleme zu stoßen. Er untersuchte den bizarren Graben, der auf Ihren Karten als Gerades Tal eingetragen ist. Seine Funktion ist uns noch unbekannt, doch muß er zweifellos von Wichtigkeit gewesen sein, da das Tal sich über die gesamte Länge von Rama erstreckt — mit Ausnahme einer Unterbrechung an der Zylindrischen See — und weil es zwei weitere identische Strukturen im Winkel von hundertzwanzig Grad auf der Peripherie dieser Welt gibt.
Dann wendete sich der Explorationstrupp nach links — oder nach Osten, wenn wir die Nordpolkonzeption übernehmen —, bis sie Paris erreichten. Wie Sie auf diesem Foto erkennen können — es wurde von einer Telekamera an der Nabe gemacht —, handelt es sich um eine Ansammlung von mehreren hundert Häusern mit breiten Straßen dazwischen.
Aber diese Fotos hier wurden vom Trupp Commander Nortons geschossen, als sie dort ankamen. Wenn Paris eine Stadt ist, dann zumindest eine sehr sonderbare. Beachten Sie, daß keines der Gebäude Fenster hat, ja nicht einmal Türen! Alle sind schmucklose, rechtwinkelige Strukturen von einheitlich fünfunddreißig Metern Höhe. Und es hat den Anschein, als wären sie aus dem Boden getrieben — es gibt keine Naht — keine Verbindungsstellen… Sehen Sie sich diese Nahaufnahme der Basis einer Wand an: sie geht glatt in den Grund über.
Mein Eindruck ist, daß es sich bei diesem Ort nicht um ein Wohngebiet, sondern um ein Lager- oder Vorratsdepot handelt. Sehen Sie sich zur Bekräftigung meiner Theorie dieses Foto hier an… Diese etwa fünf Zentimeter schmalen Schlitze oder Kerben finden sich längs aller Straßen, und zu jedem Haus führt eine davon — und verschwindet direkt in der Wand. Die Ähnlichkeit mit den Trambahnschienen des frühen zwanzigsten Jahrhunderts ist verblüffend; offensichtlich gehören sie zu irgendeinem Transportsystem.
Wir haben nie in Erwägung gezogen, öffentliche Transportwege direkt bis an jedes Haus zu führen. Das wäre eine wirtschaftliche Absurdität — denn Menschen können immer ein paar hundert Meter weit laufen. Aber wenn diese Gebäude zur Lagerung schwerer Stoffe verwendet wurden, wäre dies schon sinnvoll.“
„Darf ich eine Zwischenfrage stellen?“ fragte der Botschafter der Erde.
„Gewiß doch, Sir Robert.“
„Commander Norton konnte in kein einziges Gebäude eindringen?“
„Nein. Und wenn Sie seinen Bericht hören, dann wissen Sie, wie frustriert er war. Zunächst war er überzeugt, daß die Bauten nur unterirdisch zu betreten waren; dann entdeckte er die Gleise des Transportsystems und änderte seine Meinung.“
„Versuchte er mit Gewalt einzudringen?“
„Ohne Sprengstoff und schweres Werkzeug gab es dafür keine Möglichkeit. Und er tut es nur ungern, solange nicht alle anderen Versuche fehlgeschlagen sind.“
„Ich hab’s!“ Der Einwurf von Dennis Solomons kam plötzlich.
„Kokons!“
„Was bitte?“
„Das ist eine Technik, die vor ein paar hundert Jahren entwickelt wurde“, fuhr der Wissenschaftshistoriker fort. „Ein anderes Wort dafür ist ›einmotten‹. Wenn man etwas konservieren will, versiegelt man es in einem Überzug aus Plastik und pumpt es dann mit nichtexplosivem Gas voll. Ursprünglich wurde diese Methode angewendet, um militärische Ausrüstung von einem Krieg zum anderen zu schützen; einmal wurde es für ganze Schiffe benutzt.
Man bedient sich dieser Methode noch häufig in Museen, die zuwenig Lagerraum haben; kein Mensch weiß, was in einigen der hundertjährigen Kokons im Keller des Smithsonian Museums steckt.“
Geduld gehört nicht eben zu den Tugenden von Carlisle Perera; es drängt ihn förmlich, seine Bombe zum Platzen zu bringen. Er konnte einfach nicht länger warten.
„Bitte, Exzellenz! Das ist ja alles sehr interessant, doch ich glaube, daß meine Mitteilung von etwas größerer Dringlichkeit ist!“
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