Der Versuch war ehrenwert, blieb allerdings total erfolglos, sogar in dem Bemühen, die Moral zu heben. Was Rama verlangte, war die Großartigkeit Bachs oder Beethovens oder sogar eines Jean Sibelius oder Tuan Sun und nicht die Trivialität populärer Unterhaltungsmusik.
Norton wollte Joe gerade vorschlagen, seine Lungen doch besser für die bevorstehenden Anstrengungen zu schonen, als der junge Offizier von selbst bemerkte, wie unangemessen seine Bemühungen waren. Danach marschierten sie — abgesehen von gelegentlichen Rückchecks mit dem Raumschiff — schweigend weiter. Rama war aus dieser Runde als Sieger hervorgegangen.
Für diese erste Traverse hatte Norton einen Abstecher eingeplant. Paris lag direkt vor ihnen, halbwegs zwischen dem Fuß der Treppenkonstruktion und der Küste der Zylindrischen See, aber nur einen Kilometer zu ihrer Rechten lag eine ziemlich auffällige und rätselhafte Struktur, die sie das Gerade Tal getauft hatten.
Es handelte sich um eine langgestreckte Rinne oder um einen Graben von vierzig Metern Tiefe und hundert Metern Breite mit sacht abfallenden Hängen; provisorisch hatte man es als Wassergraben oder Kanal definiert. Und wie die Treppenkonstruktion besaß auch dieser Kanal zwei identische Gegenstücke, die in gleichem Abstand die innere Krümmung von Rama entlangliefen.
Die drei Täler waren jeweils fast zehn Kilometer lang und brachen kurz vor der Küste der Zylindrischen See abrupt ab. Und dies war merkwürdig, falls sie tatsächlich dazu bestimmt gewesen sein sollten, Wasser zu führen.
Auf dem anderen Ufer der See wiederholte sich das gleiche Muster: drei weitere zehn Kilometer lange Gräben führten zu Ramas ›Südpol‹.
Nach nur fünfzehn Minuten Marsch erreichten sie ohne Anstrengung das Gerade Tal, blieben eine Weile an seinem Rand stehen und blickten nachdenklich hinunter. Die vollkommen glatten Wände waren in einem Winkel von sechzig Grad geneigt; es gab weder Stufen noch Trittleitern. Der Grund des Kanals war von einem flachen Überzug eines weißen Stoffs bedeckt, der stark an Eis erinnerte. Eine Probe würde eine ganze Reihe von Streitfragen lösen, also entschloß Norton sich, eine zu bekommen.
Calvert und Rodrigo übernahmen die Sicherung und reichten ihm das Sicherungsseil hinunter, und langsam stemmte sich Norton den steilen Hang hinab. Als er den Grund erreichte, rechnete er fest damit, das vertraute Gefühl von glattem Eis unter den Füßen zu verspüren, aber er hatte sich getäuscht. Die Reibung war groß, seine Füße fanden sicheren Halt. Dieses Material hier war eine Art Glas oder durchsichtiger Kristall. Wenn er es mit den Fingerspitzen berührte, wirkte es kalt und hart.
Norton wendete dem Suchscheinwerfer den Rücken zu, schirmte seine Augen ab gegen die Reflexion und versuchte in die kristallischen Tiefen wie in die Eisschicht eines gefrorenen Sees zu schauen. Doch er konnte nichts erkennen: auch der gebündelte Strahl seiner Helmlampe brachte nicht mehr. Das Material war zwar lichtdurchlässig, aber nicht transparent.
Wenn es sich um eine gefrorene Flüssigkeit handelte, dann mußte ihr Schmelzpunkt höher als der von Wasser sein.
Er klopfte mit dem Hammer aus seinem Geologiepack sacht auf den Stoff: das Werkzeug prallte mit einem dumpfen klanglosen ›Klonk‹ zurück. Er klopfte stärker; ohne Ergebnis. Gerade wollte er mit aller Kraft zuschlagen, als ein undeutliches Gefühl ihn zurückhielt.
Es schien äußerst unwahrscheinlich, daß er diesen Stoff zerbrechen konnte. Was aber, wenn es ihm gelang? Er würde ein Vandale sein, der ein riesiges Glasfenster zertrümmerte.
Später würden sich bessere Gelegenheiten bieten, und immerhin hatte er ja schon einige wertvolle Informationen gesammelt. Es war nach seinen Erfahrungen jetzt noch unwahrscheinlicher als zuvor, daß es sich bei diesem Gebilde um einen Kanal handelte; es war einfach ein merkwürdiger Graben, der irgendwo abrupt anfing und aufhörte, der jedoch nirgendwohin führte. Und wenn er zu irgendeiner Zeit Flüssigkeit geführt hatte, wo waren dann die Spuren, die Verkrustungen der Austrocknungssedimente?
Alles war hell und sauber, als hätten es die Konstrukteure gestern zurückgelassen… Wieder einmal sah er sich direkt dem entscheidenden Geheimnis Ramas gegenüber, und diesmal gelang es ihm nicht, dem auszuweichen.
Commander Norton war ein verhältnismäßig fantasievoller Mensch, aber er wäre niemals auf seinem derzeitigen Posten gelandet, wenn er eine Neigung zu verrückten Einbildungen gehabt hätte. Doch jetzt machte er zum erstenmal in seinem Leben die Erfahrung — nicht eigentlich eines bedrohlichen Vorgefühls, sondern der Vorwegnahme. Die Dinge waren nicht wirklich, was sie zu sein schienen; an diesem Ort, der gleichzeitig völlig neu und Millionen Jahre alt wirkte, war irgend etwas sehr, sehr merkwürdig.
Tief in Gedanken begann er das kleine Tal hinabzugehen, während seine Gefährten ihm oben auf der Böschung mit dem Seil, das um seinen Leib gelegt war, folgten. Er rechnete nicht mit weiteren Entdeckungen, doch er wollte seiner seltsamen Gefühlsaufwallung Zeit geben, sich von selbst zu legen. Denn da war noch etwas, das ihn beunruhigte, und das hatte nichts mit der unerklärlichen Neuheit Ramas zu tun.
Er war kaum ein Dutzend Schritte gegangen, als es ihm blitzartig klarwurde.
Er kannte diesen Ort. Er war früher schon einmal hier gewesen. Selbst auf der Erde oder auf einem vertrauten Planeten ist ein Déjà-vu- Erlebnis beunruhigend, wenn es auch nicht gerade selten auftritt. Die meisten Menschen sind ihm irgendwann einmal begegnet, und gewöhnlich tun sie es als die Erinnerung an ein vergessenes Foto ab, als einen reinen Zufall oder — wenn sie zur Mystik neigen — als eine Art telepathischer Botschaft von einem anderen Gehirn oder sogar als eine Rückblende aus der eigenen Zukunft.
Aber einen Fleck wiederzuerkennen, den zweifellos kein anderes menschliches Wesen je zuvor gesehen haben konnte — das war schon ziemlich beunruhigend. Mehrere Sekunden lang stand Commander Norton unbeweglich auf der Kristallfläche und versuchte, den Wust seiner Gefühle zu ordnen. Sein wohlgefügtes Weltbild hatte sich verkehrt, und er erhaschte einen schwindelerregenden Blick auf jene Geheimnisse am Rande der Existenz, die er während eines Großteils seines Lebens so erfolgreich ignoriert hatte.
Dann kam ihm zu seiner enormen Erleichterung der gesunde Menschenverstand zu Hilfe… Das beunruhigende Déjà-vu-Gefühl wurde schwächer und machte einer tatsächlichen und genau identifizierbaren Erinnerung aus seiner Jugend Platz.
Ja, es stimmte: er hatte einstmals zwischen derartig steil herabfallenden Wänden gestanden und war ihnen mit den Blicken gefolgt, wie sie in einer fast unendlich weiten Ferne in einem Punkt verschmolzen. Aber damals waren sie mit sorgfältig geschnittenem Rasen bewachsen, und zu seinen Füßen war Schotter, nicht glatter Kristall gewesen.
Das war vor dreißig Jahren passiert, als er die Sommerferien in England verbrachte. Hauptsächlich wegen einer Studienkollegin (er sah ihr Gesicht noch vor sich — doch ihren Namen hatte er vergessen) hatte er einen Kursus in Industrie- Archäologie belegt, wie sie damals bei den Studenten wissenschaftlicher und technologischer Fächer so beliebt waren. Sie hatten stillgelegte Kohlengruben und Baumwollspinnereien erforscht, waren über verrottete Hochöfen und Dampfkessel geklettert, hatten voller Unglauben die primitiven (und immer noch gefährlichen) Atomreaktoren begafft und unbezahlbare antike Turbovehikel über restaurierte Autobahnen gefahren.
Nicht alles, was sie zu sehen bekamen, war echt: im Lauf der Jahrhunderte war vieles verlorengegangen, da die Menschheit sich höchst selten bemüht, die Gebrauchsgegenstände des Alltagslebens zu erhalten. Aber wo es nötig gewesen war, Kopien herzustellen, war die Rekonstruktion mit liebevoller Sorgfalt ausgeführt worden.
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