Nur direkt vor ihnen, auf der Linie, die mit der Achse Ramas parallel verlief, blieb die Normalität bestehen. Einzig in dieser Richtung stimmten optischer Eindruck und Logik miteinander überein. Hier wirkte Rama — zumindest über die nächsten paar Kilometer hin — flach und war auch flach… Und weit draußen, jenseits ihrer verzerrten Schatten und der äußersten Grenze des Scheinwerferstrahls, lag die Insel, die die Zylindrische See beherrschte.
„Kontrollpunkt Nabe“, meldete sich Dr. Ernst über Funk. „Bitte richten Sie den Scheinwerfer auf New York.“
Plötzlich fiel die Rama-Nacht wieder über sie, als das Lichtoval auf die See hinausglitt.
Und plötzlich wurde den drei Raumfahrern wieder bewußt, daß sie auf dem Kamm einer — jetzt unsichtbaren — Klippe standen, und sie wichen alle ein paar Schritte zurück. Dann tauchten wie bei einer zauberhaften Verwandlung auf einer Bühne die Turmbauten New Yorks aus der Dunkelheit.
Die Ähnlichkeit mit dem Manhattan der alten Zeit war natürlich recht oberflächlich; dieses in den Sternen geborene Echo der Erdvergangenheit besaß eine durchaus einzigartige und eigenständige Erscheinungsweise. Und je länger Dr. Ernst das Gebilde anstarrte, desto größer wurde ihre Gewißheit, daß es sich überhaupt nicht um eine Stadt handelte.
Das echte New York war wie alle menschlichen Niederlassungen niemals vollendet worden; noch weniger war es planvoll gewesen.
Dieser Ort dagegen besaß ein symmetrisches Gesamtmuster, wenn auch ein dermaßen kompliziertes, daß man es mit dem Verstand gar nicht erfassen konnte. Dies hier war von einer wachen und übernatürlichen Intelligenz entworfen und geplant worden — und vollendet worden — wie eine Maschine, die für einen bestimmten Zweck konstruiert ist. Wachstum oder nachträgliche Veränderungen waren ausgeschlossen.
Der Kegel des Suchscheinwerfers glitt langsam über diese fernen Türme und Kuppeln, miteinander verbundenen Kugeln und einander überschneidenden Rohre. Zuweilen wurde das Licht grell von einer flachen Struktur zu ihnen zurückgeworfen. Das erstemal waren alle drei verblüfft, es wirkte ganz so, als ob dort drüben auf jener seltsamen Insel jemand ihnen Signale sendete… Aber es gab hier nichts zu sehen, was nicht bereits viel detaillierter auf den Fotos festgehalten war, die von der Nabe aus gemacht worden waren.
Nach ein paar Minuten baten sie, den Scheinwerfer wieder auf ihren Trupp zu richten, und begannen den Klippenrand in östlicher Richtung entlangzugehen. Jemand hatte die einleuchtende Theorie aufgestellt, daß es irgendwo eine Treppe oder eine Rampe geben müsse, die zur See hinabführte. Und ein Mitglied der Besatzung, ein begeisterter Segler, hatte eine interessante Vermutung angestellt.
„Wo ein Meer ist“, hatte Sergeant Ruby Barnes prophezeit, „da muß es auch Docks und Häfen geben — und Schiffe. Über eine Kultur kann man alles lernen, wenn man ihre Schiffsbaukunst studiert.“ Die Kollegen hielten dies zwar für einen ziemlich bornierten Standpunkt, aber er wirkte zumindest anregend.
Dr. Ernst wollte bereits die Suche aufgeben und den Abstieg per Seil anordnen, als Leutnant Rodrigo die schmale Treppe entdeckte.
Man hätte sie in der Schattendunkelheit unterhalb der Klippe leicht übersehen können, denn es gab kein Leitgeländer oder sonst etwas, das auf ihr Vorhandensein hingedeutet hätte.
Und sie schien kein bestimmtes Ziel zu haben: sie führte die fünfzig Meter hohe senkrechte Wand hinab und verschwand in steilem Winkel unter der Oberfläche der See.
Sie ließen ihre Helmlampen über die Treppe streichen, und da sie nichts entdeckten, was möglicherweise Gefahr bedeutet hätte, erbat Dr. Ernst von Commander Norton die Erlaubnis zum Abstieg. Eine Minute später tastete sie behutsam die Oberfläche der See ab.
Ihr Fuß glitt nahezu reibungslos vor und zurück.
Der Stoff fühlte sich genau an wie Eis.
Und es war Eis.
Als sie mit ihrem Hammer darauf einschlug, ergab sich das vertraute Muster von Sprüngen, die radial von der Aufprallstelle ausgingen, und Dr. Ernst konnte so viele Bruchstücke sammeln, wie sie wünschte. Einige waren bereits zerschmolzen, als sie den Probenbehälter dem Licht entgegenhielt; die Flüssigkeit wirkte wie leicht getrübtes Wasser; vorsichtig roch sie daran.
„Ist das ungefährlich?“ rief Rodrigo mit einer Spur von Besorgnis in der Stimme zu ihr hinab.
„Glauben Sie mir, Boris“, antwortete Dr.
Ernst, „wenn es hier irgendwelche Pathogene gibt, die meinen Detektoren entgangen sind, dann sind unsere Versicherungspolicen bereits seit einer Woche wertlos.“
Doch Boris’ Warnung hatte etwas für sich.
Trotz all der beruhigenden Teilergebnisse bestand noch immer ein minimales Risiko, daß dieser Stoff giftig sein oder irgendeine unbekannte Krankheit übertragen konnte. Normalerweise wäre Dr. Ernst noch nicht einmal dieses minimale Risiko eingegangen, aber jetzt drängte die Zeit, und Einsätze und Gewinne waren enorm hoch. Falls es nötig sein sollte, die Endeavour unter Quarantäne zu setzen, dann würde dies ein ziemlich geringer Preis sein für die Fülle an neuen Erkenntnissen.
„Es ist Wasser, aber ich habe keine Lust, es zu trinken — schmeckt wie eine schiefgelaufene Algenkultur. Ich kann es kaum erwarten, bis ich es im Labor habe.“
„Ist das Eis fest genug. Kann man darauf gehen?“
„Ja, es ist steinhart.“
„Dann können wir also nach New York gehen.“
„Können wir das wirklich, Pieter? Haben Sie jemals versucht, vier Kilometer weit übers Eis zu laufen?“
„Oh — ich verstehe, was Sie meinen. Stellen Sie sich bloß mal vor, was das Magazin dazu sagen würde, wenn wir Schlittschuhe anforderten!
Ganz abgesehen davon, daß kaum einer von uns in der Lage sein dürfte, sich damit zu bewegen, auch wenn wir welche an Bord hätten.“
„Und wir haben ein weiteres Problem“, warf Boris Rodrigo ein. „Habt ihr bemerkt, daß die Temperatur bereits über den Gefrierpunkt angestiegen ist? Es wird nicht lange dauern, und dieses Eis beginnt zu schmelzen. Wie viele Raumfahrer können vier Kilometer weit schwimmen? Ich jedenfalls bestimmt nicht…“
Dr. Ernst war wieder oben auf dem Klippenkamm zu ihnen gestoßen und hielt nun triumphierend die kleine Probenflasche in die Höhe.
„Es ist ein langer Marsch für ein paar Kubikzentimeter schmutziges Wasser, aber wir erfahren dadurch möglicherweise mehr über Rama als aus allem, was wir bisher gefunden haben.
Kehren wir also in den Stall zurück.“
Sie wendeten sich den fernen Lichtern der Nabe zu und zogen in den sanften weiten Sprüngen los, bei dieser verminderten Schwerkraft die bequemste Fortbewegungsart. Aber sie schauten oft zurück, fasziniert von der verborgenen Rätselhaftigkeit dieser Insel inmitten der gefrorenen See.
Und einmal, ganz kurz, hatte Dr. Ernst das Gefühl, als habe eine ganz leichte Brise wie ein Hauch ihre Wange gestreift.
Der Lufthauch wiederholte sich nicht, und so vergaß sie es vollkommen.
„Sie sind sich selbstverständlich vollkommen darüber bewußt, Dr. Perera“, sagte Botschafter Bose im Ton geduldiger Resignation, „daß nur wenige unter uns sich mit Ihnen in Ihrem Spezialgebiet der mathematischen Meteorologie verständigen können. Haben Sie also bitte Mitleid mit unserem Unverstand.“
„Aber mit Vergnügen“, antwortete der Exobiologe ganz ohne Verlegenheit.
„Ich kann es Ihnen am besten erklären, wenn ich Ihnen sage, was in Rama geschehen wird — und zwar sehr bald. Die Temperatur steigt jetzt allmählich an, da die solaren Hitzewellen ins Innere vordringen. Nach der letzten mir zugegangenen Information ist sie bereits über den Gefrierpunkt gestiegen. Bald wird die Zylindrische See zu tauen beginnen, und im Gegensatz zu Gewässern auf der Erde wird sie von unten nach oben schmelzen. Das könnte einige unangenehme Folgen haben. Aber ich mache mir viel größere Sorgen wegen der Atmosphäre. Bei ihrer Erwärmung wird sich die Luft in Rama ausdehnen — und sie wird versuchen, zur Zentralachse aufzusteigen. Hier liegt das Problem.
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